Bühne 4
Die Arbeit des Beauftragten

Gedenkrede 07.03.2024

Gedenkstätte Band der Erinnerung, Synagoge Saarbrücken

 

Halbjahreserinnerung an das Hamas Massaker

 

1941, als die Totenkopfdivisionen der SS ihre Heimat verwüstet, ihre Nachbarn getötet oder deportiert hatten, schrieb Rose Ausländer, die große deutschsprachige jüdische Lyrikerin:

Sie kamen mit grellen Fahnen und scharfen Pistolen. Sie schossen alle Sterne und den Mond ab, damit kein Licht uns bliebe, damit kein Licht uns liebe.

Erinnern wir uns an diese Worte nach dem siebten Oktober.

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Manchmal erleben wir einen Riss in der Zeit. Furchtbares geschieht und zwischen dem, was eben war, und dem, was jetzt ist, hat sich ein Abgrund von Finsternis aufgetan. So war das am Schwarzen Schabbat, dem 07.10.2023, an dem ein Albtraum wahr geworden ist. Mörder, ohne menschliches Antlitz richteten jüdische und nichtjüdische Menschen planvoll, abartig grausam und voller Lust am Töten hin. Sie erschossen am Boden liegende Wehrlose, sie vergewaltigten und folterten Frauen, sie schlachteten Kinder ab. Sie nahmen Geiseln, viele von ihnen sind noch eingekerkert bei ihren Schergen, darunter der 85jährige Shlomo Mansour, dessen Verwandte, die Familie Cohen, heute zu uns gekommen sind und damit ein Zeichen setzen, uns unermessliches Leid sichtbar machen und zugleich sichtbar machen, dass jüdische Menschen mit Mut und Tapferkeit für Freiheit, Recht und Menschlichkeit eintreten.

Die Schwärze des Schabbat des 07.10.2023 hat sich in den Tagen bis heute auch auf Deutschland gesenkt. Wir haben das Feiern des bestialischen Mordens auf deutschen Straßen und Plätzen erlebt. Menschen haben getanzt und Süßigkeiten verschenkt, sie haben die um Hilfe rufenden Plakate mit den Gesichtern der Geiseln abgerissen, wie kalt und abscheulich kann man sein. Manche von ihnen sind einmal zu uns gekommen, um in einem freien und hilfsbereiten Land zu leben, weil sie die Unterdrückung und Knechtung in ihrer Heimat nicht ertragen haben, die Armut dort und das Elend. Auch in Gaza. Sie jubeln den verbrecherischen Taten des Terrors zu, sie demonstrieren auf unseren Straßen mit einer Freiheit, die sie in ihrer früheren Heimat nicht genießen. Sie zollen den Führern Beifall, die sich offen dazu bekennen, Blut zu brauchen für ihre vermeintliche Revolution, Führer, die fern von Gaza im Luxus von Scheichtümern leben und Milliardenvermögen verwalten, mit dem ganz unschwer eine wirkliche Befreiung palästinensischer Menschen hätte bewirkt werden können. An das unendliche Leid Israels zu erinnern, es zu betrauern, die Täter zu brandmarken darf in Deutschland nicht enden.

Die Schwärze des Schabbat des 07.10.2023 hat in Deutschland Fluten abgrundtiefer Verblendung und Boshaftigkeit erzeugt, die Bereitschaft, Menschen jüdischen Glaubens verbal und tätlich anzugreifen. Antisemitische Verhetzungen nehmen zu. Jüdische Menschen werden in Schulen und Universitäten, im Sport und gesamten gesellschaftlichen Leben von einigen Täterinnen und Tätern ausgegrenzt und verfolgt. Das werden wir nicht dulden. Das werden wir unnachsichtig verfolgen.

Zur geschichtlichen Verantwortung Deutschlands gehört, dass jüdische Menschen sich darauf verlassen können, von uns, dem deutschen Staat und der Zivilgesellschaft geschützt zu werden.

Aber davon abgesehen verändern sich Fragen und Stellungnahmen in Teilen der deutschen Gesellschaft. Die Solidarität mit den Opfern war für viele eine 48-Stunden-Solidarität. Die Empathie war endlich. Es ist das große Ja-Aber, das uns zunehmend auch in der sich für aufgeklärt haltenden deutschen Zivilgesellschaft begegnet. „Man wird doch wohl Israel kritisieren dürfen“, sagen viele, die nie in Israel waren und keine Angehörigen an der Grenze zu Gaza haben, die keine der entsetzlichen Filmaufnahmen des Massakers gesehen haben, deren Aufführung, wie man weiß, selbst hartgesottene Kriegsreporter weinend verlassen haben. Vielleicht sollten wir „Israelkritik“ in Deutschland denjenigen überlassen, die gegen die Maßnahmen der Regierung dieses immer noch einzigen wirklich demokratischen Staates im Nahen Osten aus eigenem Erleben seit Monaten protestieren, die Hunderttausenden, manche sagen Millionen Israelis, die auf die Straßen gehen, weil sie sich allein gelassen fühlen von ihren Regierenden. Wir Deutsche sollten uns nicht als ihr Vormund gerieren.

Vielleicht sollten wir auch bedenken, was die meisten nicht einmal spüren: Auch für jüdische Menschen in Deutschland ist etwas zerbrochen, selbst wenn sie keine Angehörigen verloren haben oder gefährdet sehen. Sie haben die Gewissheit verloren, nach den Traumata ihrer deutschen und europäischen Geschichte eine Heimstatt zu haben, die Sicherheit einer Fluchtburg, in die sie ziehen können, wenn sie in Deutschland und anderswo zu ihren gepackten Koffern greifen müssen.

Es ist geschehen, also kann es wieder geschehen, sagt Primo Levi.

Mich fragen in den letzten Wochen durchaus anständige, aufrechte Menschen mitten aus der bürgerlichen Gesellschaft, es dürfe doch nicht sein, was jetzt in Gaza geschieht. Es sind Menschen, deren Kinder und Enkel auf unseren Spielplätzen Verstecken in dort manchmal zum Spaß liegenden Betonrohren spielen, Sie sollten daran denken, dass in Tel Aviv auf den dortigen Spielplätzen ganz anders armierte Betonrohre liegen, damit die Kinder Schutz suchen können, wenn wie fast täglich Raketen aus den Tunnels auch unter Krankenhäusern in Gaza auf Tel Aviv abgefeuert werden.

Aber es sind Fragen, die ich nicht beantworten kann, so wenig wie ich Fragen von Bürgerinnen und Bürgern in Dresden beantworten könnte, ob ich es richtig fände, dass ihre Vorfahren vor 79 Jahren in den Feuerwalzen der Royal Air Force verbrannt sind. Es sind schreckliche moralische Dilemmata.

In diesen Tagen haben muslimische Gemeinden im Saarland die Verbrechen des siebten Oktober mit aller Eindeutigkeit verurteilt. So sehr manche von uns die Erklärung selbstverständlich finden mögen, so sehr sollten wir dieser Leistung tiefen Respekt zollen. Diese Erklärung war aus vielen Gründen für ihre Autoren schmerzlich. Der Respekt sollte uns alle auch dazu führen, die unschuldigen Opfer in Gaza tief zu betrauern, auf ihr Leid hinzuweisen und dessen Ende einzufordern, auch wenn es so einfach wäre, das Leid zu beenden, wenn die Verbrecher der Hamas das Volk Palästinas von sich von der Hamas befreien würden.

Das Gedenken an den siebten Oktober, an seine israelischen, jüdischen wie nichtjüdischen Opfer und der durch das Verbrechen verursachten weiteren Opfer kann, wie jedes Gedenken, einen mehrfachen Sinn haben: Unseren Respekt vor den Opfern und die Anerkennung ihres unendlichen Leids auszudrücken, indem wir uns an ihre Seite stellen. Die Verurteilung aller Verbrechen gegen die Menschlichkeit als ein Bekenntnis zu Freiheit und Frieden und Menschenwürde auszudrücken.

David Grossmann, einer der bedeutendsten israelischen Erzähler der Gegenwart, hat auf der Trauerfeier der Kibbuzbewegung in Tel Aviv und immer wieder über den siebten Oktober und seine Folgen gesprochen: Die Gräueltaten dieser Tage seien bei aller kritischen und auch verurteilenden Betrachtung manchen Geschehens nicht Israel zuzuschreiben. In der Rangordnung des Bösen nehme die verbrecherische Hamas einen besonderen Platz ein. Und gleichzeitig hat er von den vielen Jahren des Hasses, die uns bevorstehen, aber auch von dem Mut zu einem neuen Anfang gesprochen. „Wie viel Blut muss noch vergossen werden, bis wir einsehen, dass der Frieden unsere einzige Option ist?" Friede im Angesicht des Mordens? Im Angesicht der Trauer über all die Verlorenen?

Herbert Jochum, einer der großen saarländischen Verständiger zwischen Christen und Juden, hat einmal von einem Erlebnis als junger Mann in den sechziger Jahren auf einer Israelreise berichtet: 

Es ist ein schwieriger Moment, wenn ein junger Deutscher zum ersten Mal die in Auschwitz eintätowierte Nummer auf dem Arm einer alten gebeugten Marktfrau in Israel sieht und dann in seiner Muttersprache hört: Freuen Sie sich, wie wir uns freuen, dass Sie da sind.

Der zuweilen so routinemäßige Appell an die Staatsraison Deutschlands, das Existenzrecht Israels, schließt aus unserer historischen Verantwortung auch die Hilfe zum Frieden in Israel ein. Von einem nichtjüdischen Menschen ist es vermessen. Vielleicht erlaubt sie aber eine Bitte und eine Hoffnung: Dass das jüdische israelische Volk wieder das zeigt, was zu seiner unendlichen Größe in den Tausenden Jahren seiner Geschichte immer wieder gehört hat, die Hand auszustrecken. Und vielleicht erlaubt das Gedenken an die Verbrechen Deutschlands vor rund achtzig Jahren an unsere deutschen Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu appellieren, das vornehme, hochfahrende Abwägen zu lassen und das Versprechen Deutschlands einzulösen: Zu unserer Freiheit gehört die Sicherheit jüdischer Menschen in Deutschland und der Respekt vor ihnen, ihre Verteidigung vor den Verhetzungen und Schädigungen. Zu unserer Verantwortung gehört die Hilfe zum Frieden im Nahen Osten. 

Rose Ausländer hat nach Auschwitz gedichtet:

Wenn der Krieg beendet ist, am Ende der Zeit, gehen wir wieder spazieren in der Allee, miteinander einverstanden, Mensch und Mensch. Es wird schön sein, wenn es sein wird. Am Ende der Zeit.

Das ist das Vermächtnis, das wir im Gedenken an den siebten Oktober immer wieder zu erfüllen suchen müssen.

 

 

 

Laudatio

Verleihung der Rabbiner-Rülff-Medaille

an Prof. Herbert Jochum

Vorsitzender der Christlich-Jüdischen Gemeinschaft

der Bistümer Trier und Speyer

am 05. März 2024

Rathaus LHSt. Saarbrücken

 

1. Vorbemerkung

Als mir die Ehre angetragen wurde, eine Laudatio auf Herbert Jochum zu halten, habe ich zuerst versucht mich zu vergewissern: Was sagt man eigentlich in einer solchen feierlichen Würdigung?

Erster Versuch: Nach Wikipedia verstand die römische Antike unter einer Laudatio die Rede über einen Angeklagten, die dessen wahren Charakter darstellen soll. Das schien mir nicht ganz passend.

Zweiter Versuch: Was sagen namhafte Lobredner über den Sinn ihres Tuns? Herbert Jochum hat seine Laudatio über Zvi Avni mit einer Erläuterung aus dem Talmud begonnen: Eine Laudatio habe die Aufgabe, einen wichtigen Menschen zu loben, aber nicht zu viel.

Immerhin, ein Anfang. Da eine Lobrede aber im Wesentlichen Leben und Werk einer Person darstellen soll, habe ich zur Vereinfachung den Laureaten, also mein Opfer, Herbert Jochum, gebeten, sie doch der Einfachheit halber selbst zu schreiben mit ein paar kurzen Notizen zu seinem Werdegang.

Ich danke Ihnen, sehr verehrter Herr Jochum, für die mit Fundstellen, gefühlt ein paar hundert Seiten, auf denen Sie mir die Stationen Ihres Lebens und Wirkens geschildert haben. Ich komme also zur Verlesung, wir alle haben uns ja etwas Zeit genommen.

 

2. Leben

Im Juni 1937 in Hüttigweiler geboren haben Sie nach Ihrem Abitur in Neunkirchen katholische Theologie, Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in Wien und Saarbrücken studiert, sind bald in den saarländischen Schuldienst eingetreten und haben über Jahre, ja Jahrzehnte an der Peter-Wust-Hochschule in Saarbrücken, der Vorläuferin der HTW, dann an der Universität des Saarlandes katholische Theologie und Judaistik gelehrt. „Bildung“ und „Begegnung“ haben sie die Wegmarken Ihres persönlichen, akademischen und öffentlichen Lebens genannt. Ihre Quelle war, ich kann das selbst sehr gut nachvollziehen, eine tiefe Irritation schon während Ihrer Jugend. Wie kann man das Schicksal der jüdischen Menschen unter der Gewalt- und Willkürherrschaft der nationalsozialistischen Zeit, dem Zivilisationsbruch der Shoa, verstehen? Wie kann man als Christ das Geburtstrauma des Christentums, das seine Identität durch die Diffamierung und Entwürdigung des Judentums gewonnen hat, verstehen? Die Fragen haben Sie immer stärker geprägt, während, wie Sie sagen, Ihr Wissen immer mehr wuchs und ihr Verständnis immer mehr schwand.

Hinzu kam dann in Studienjahren der Blick auf Vergessen, Verdrängung, Verweigerung von Erkenntnis in der früheren bundesrepublikanischen Geschichte, die von den großen deutschen Psychiatern, dem Ehepaar Mitscherlich einmal so genannte „Unfähigkeit zu trauern“.

Herbert Jochum war aber nicht unfähig zu trauern, Sie wollten sehen und wissen und sich zur Wahrheit und zum Verständnis quälen. Und weil es in Deutschland, auch im Saarland, kaum mehr jüdische Menschen gab, reisten Sie in deren Heimstatt und Zufluchtsort Israel. Ihrer Erzählung habe ich angemerkt, wie bange Sie gewesen sein müssen und wie erstaunt und verwundert alsbald. Ich zitiere Sie: Es ist ein schwieriger Moment, wenn ein junger Deutscher zum ersten Mal die in Auschwitz eintätowierte Nummer auf dem Arm einer alten gebeugten Marktfrau in Israel sieht und dann in seiner Muttersprache hört: Freuen Sie sich, wie wir uns freuen, dass Sie da sind.

Damit hatten Sie eine Aufgabe erhalten und angenommen, die Sie zurück in Deutschland als Lehrender und als Wirkender in der Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft über weit mehr als fünf Jahrzehnte erfüllt haben und für die Sie im Jahr 2010 zurecht das Verdienstkreuz erster Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland für ihre Integrationsleistung und Ihren Einsatz für den Dialog der Religionen erhalten haben.

 

3. Wirken

Abendfüllend wäre es, die kaum zählbaren Vorträge und Veröffentlichungen von  Herbert Jochum zur jüdischen Geschichte und Religion, zu den jüdischen Festen – jüdische Menschen sind ja, wie schon die unüberschaubare Zahl ihrer Feiertage zeigt, Festweltmeister, und ich glaube, Herbert Jochum hat das in aller Stille genossen – zu den Ursachen und Wirkungen des Antisemitismus, des Konflikts im Nahen Osten und seinen verborgenen Quellen, zu den großen Denkern des Judentums, zu erinnern, zu erzählen, wie viele Vortragende aus aller Welt er eingeladen, wie viele Zeitzeugenprogramme er entworfen und durchgeführt hat, wie er jüngere und ältere Menschen in der Begegnung und im Dialog miteinander verbunden hat. Ich greife vier Ereignisse und zwei Werke heraus.

Herbert Jochum hat kaum nach Übernahme des Amtes als Mitvorsitzender der Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft im Saarland 1973 die Woche der Brüderlichkeit in Saarbrücken initiiert, organisiert und begleitet, ein knappes Jahr nach dem palästinensischen Attentat auf Olympia in München eine besondere Herausforderung. Er hat nach der Wiederentdeckung des bedeutenden jüdischen Komponisten Zvi Avni, der später Ehrenbürger Saarbrückens wurde, 2004 die Gedenkveranstaltung zum 50jährigen Bestehen der Arbeitsgemeinschaft mit der Uraufführung einer ihr gewidmeten Komposition von Zvi Avni veranstaltet, die den bezeichnenden Titel „Gesharim“ (Brücken) trug. Brücken zu bauen ist Ihr ganz persönliches Anliegen.

Er hat 2013 erreicht, dass Saarbrücken einen ersten besonderen Erinnerungsort, den Rabbiner-Rülff-Platz erhielt, zu dessen Einweihung die Tochter Rülffs und viele Angehörige der Synagogengemeinde, die weit über die Welt verstreut leben, in unsere Heimat gekommen sind. 2021 hat er maßgeblich die Sichtbarmachung jüdischen Lebens in Deutschland und im Saarland, 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland, 700 Jahre jüdisches Leben im Saarland, mitgeprägt. Schon diese vier Großereignisse waren besondere Etappen auf dem saarländischen Weg der christlich-jüdischen Verständigung.

In wissenschaftlicher Hinsicht haben mich zwei wirklich herausragende Leistungen tief beeindruckt. Das eine ist eine Abhandlung „Christlich-jüdischer Dialog als Gefahr“, in der sich Herbert Jochum kritisch mit der sehr deutschen Stellungnahme eines Papstes zum Traktat „De Judaeis“ ebenso vornehm wie gewissenhaft und gründlich befasst hat und all die Schwankungen und Unklarheiten in der Auseinandersetzung mit der Substitutionslehre  unterstrichen hat. Das ist die Lehre, nach der das Christentum das Judentum von den Verheißungen und Erwählungen Gottes abgelöst und damit aus der Heilsgeschichte ausgeschlossen hat, eine so nie ausdrücklich bezeichnete kirchliche Lehre, die den Antijudaismus und damit die Verstoßung jüdischer Menschen aus dem Bund Gottes und so eben auch zu ihrer Verfolgung und Vernichtung beigetragen.

Herbert Jochum wäre nicht der ausgezeichnete Lehrende, der er ist, würde er nicht die wissenschaftliche Tiefgründigkeit seiner theologischen Stellungnahmen verbinden mit der seinen kunstgeschichtlichen Neigungen entgegenkommenden Veranschaulichung. 1993 hat er die Ausstellung Ecclesia und Synagoga konzipiert, organisiert und in 70 Städten in Deutschland, Österreich, Luxemburg und den Niederlanden gezeigt. Es ist die großartige Veranschaulichung der Geschichte des Antijudaismus und damit des Antisemitismus durch Sprach- und Bildsymbolik. Der starken, schönen, stolzen, triumphierenden Figur der Ecclesia wird – über Jahrhunderte hinweg – eine schwache, geschlagene, abgewandte, verschleierte Frau mit gebrochenem Stab gegenübergestellt.

Nichts vermag klarer und eindrucksvoller die frühere Verächtlichmachung und Herabwürdigung jüdischer Menschen durch christliche Menschen zu veranschaulichen. Aber nichts kann gleichzeitig einen so klaren Beitrag zur Umkehr bewirken, wie sie Herbert Jochums Anliegen in dem weit mehr als einem halben Jahrhundert seines Engagements ist.

 

4. Das Besondere

In den wenigen Jahren, in denen wir uns kennen, habe ich mich gefragt, wie man Herbert Jochum eigentlich beschreiben kann. Er ist ein großer Lehrender und das kann man nur sein, wenn man das, was man lehrt, liebt und deshalb neugierig ist, es zu kennen und zu verstehen und wenn man die, die man lehrt, liebt, weil man sie auf ihrem Weg und zu ihrem Ziel mit Menschlichkeit und Verständnis begleitet. Wer junge Menschen lehrt und sie lehrend ergreifen will, darf nicht in metaphysischen Abstraktionen baden, er muss veranschaulichen, Geschichte bildlich machen. Und er muss zugleich selbst eine klare Haltung einnehmen und vermitteln, er muss die Menschen mitnehmen wollen auf ihrem Weg der Erkenntnis, etwas in ihren Köpfen und ihrem Verhalten ändern wollen zum Klügeren, zum Guten.

Das ist Herbert Jochum mehr als gelungen. Als wir in meiner Expertenkommission, in der ich die Ehre habe, Herbert Jochum als Mitglied zu wissen, über die ungeheuerlichen Untaten des 07.10.2023 und ihre klammheimlichen Freunde in Deutschland gesprochen haben, vor allem darüber, wie dem zu begegnen ist, saß Herbert Jochum in der Runde, wirkte, als ob er ein wenig verschmitzt den Anderen, Jüngeren, in ihren Debatten zuhörte und entwarf dann mit wenigen Sätzen einen Vorschlag. Abgekürzt: Aufklärung, Verantwortung, aufrechter Mut, Wille zum Verständnis und zur Charakterbildung. Es hat mich tief beeindruckt.

 

5. Nachbemerkung

Herbert Jochum hat mir geschrieben, die sein Anliegen der christlich-jüdischen Versöhnung prägende Wanderreise in jungen Jahren von Venedig aus nach Israel habe auf einem maroden Schiff mit dem verheißungsvollen Namen Pegasus begonnen. Das mag er als ein Zeichen betrachtet haben. Die griechische Mythologie kennt das geflügelte Pferd Pegasus, das ein antiker Held zähmt und mit dem er in die Welt zieht, um das Böse zu bekämpfen. Zwei Feinden galt sein Kampf, glaubt man den Sagen. Auf Pegasus ritt der Held gegen die Amazonen und besiegte sie. Ich weiß nicht, lieber Herr Jochum, ob sie in ihren jungen Jahren wirklich Amazonen besiegen wollten, reden wir später drüber. Aber auf Pegasus besiegte der griechische Held, im Übrigen ein Enkel des Sisyphos, des mit dem Stein, die Schimäre, ein Ungeheuer, das seinen Namen gegeben hat um Trugbilder, Hirngespinste, Verschwörungsfantasien zu bezeichnen.

 

Gegen Schimären streiten Sie, verehrter Herr Jochum, Ihr Leben lang. Manchmal wie Sisyphos, manchmal wie der Held auf Pegasus, mit Bildung und Begegnung. Wer wäre würdiger, mit der Rabbiner-Rülff-Medaille ausgezeichnet zu werden als Sie.  

 

 

 

„Von der Notwendigkeit der Erinnerung in Tagen der Zeitenwende

Oder;

Was hat der 07. Oktober 2023 mit dem 27. Januar 2024 zu tun?“

 

Ansprache anlässlich des Holocaustgedenktages,

St. Wendel 27. Januar 2024

 

 

Nach ersten Vorschlägen des Sicherheitsdienstes der SS unter der Leitung von Reinhold Heydrich im Jahr 1937 erklärte Herrmann Göring in Berlin, als die weitere „Judenpolitik“ nach der Reichspogromnacht beraten wurde, Adolf Hitler habe ihn angewiesen, den Madagaskarplan endlich in Angriff zu nehmen. Der Madagaskar-Plan sah vor, mehrere Millionen deutsche und europäische Juden  zwangsweise nach Madagaskar zu verschiffen in ein ihnen dort geschaffenes Gemeinwesen, das zu verlassen unter Androhung der Todesstrafe verhindert werden sollte.

Am 25. November 2023 trafen sich – Sie alle kennen die Geschichte – in einem Landhotel am Lehnitzsee in der Nähe von Potsdam Menschen, eine Bundestagsabgeordnete der AfD, Mitarbeiter der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag, ein Fraktionsvorsitzender der AfD in einem deutschen Landtag, Mitglieder der Werteunion, wohlhabende Ärzte und Unternehmer, verurteilte Gewalttäter. Sie hörten beifällig dem Vortrag eines Kopfes der sogenannten Identitären, einer rechtsextremistisch-rassistischen durch den Verfassungsschutz beobachteten Bewegung. Er stellte einen Masterplan vor.

Flüchtlinge in Deutschland, Menschen mit Migrationshintergrund, nicht assimilierte Deutsche, seien, sobald man an die Macht gelangt sei, in einen Musterstaat im nördlichen Afrika zu deportieren, wohin sich gerne auch die Deutschen, die Flüchtlingen geholfen hätten, begeben könnten. Das solle nach zu verabschiedenden neuen Gesetzen „streng legal“ mit dem nötigen Druck der Straße verwirklicht werden.  

Als sich 1941 herausstellte, dass Madagaskar keine Option war, begann der Bau der Vernichtungslager Auschwitz, Sobibor, Treblinka, Mauthausen. Die Wannsee Konferenz hochrangiger Beamter des nationalsozialistischen Systems beriet am 20.01.1942 – unweit des Lehnitz-Sees und des dortigen Landhotels – die „Endlösung“ und beschloss die dazu notwendigen chemikalischen Maßnahmen. 6.000.000 Juden wurden ermordet. Den, wie es hieß „Rassenkrieg“ der Nationalsozialisten, büßten, was gelegentlich vergessen wird, mehr als 70 Millionen Menschen weltweit mit ihrem Leben, darunter nahezu jeder 10. Deutsche.

„Von der Notwendigkeit der Erinnerung in Tagen der Zeitenwende“ habe ich angekündigt zu sprechen. „Erinnern tut weh“ hat Rita Süßmuth, eine der namhaftesten Politikerinnen der CDU, einmal gesagt. Aber sich den Wahrheiten der Geschichte zu stellen, sei unverzichtbar aus zwei Gründen. Dazu verpflichteten uns die Opfer und ihre Nachkommen. Aber es sei auch für uns selbst notwendig, Tag für Tag.

Erinnerung, Gedenken, verfolgt zwei unterschiedliche Ziele.

Jeder von uns erinnert sich an gute Zeiten und an Zeiten von Schicksalsschlägen und Trauer. Jedem von uns ist das wichtig, weil sie Teil der eigenen Lebensgeschichte sind, sie unsere Identität geformt haben. Wenn wir uns – wie das so vorbildlich in St. Wendel geschieht – auf Spurensuche begeben, dann zeigen wir Respekt vor der Vergangenheit, ohne die wir nicht hier wären, wir zeigen Respekt vor Menschen, denen in fürchterlichen Zeiten Grausames widerfahren ist, vor dem unsäglichen Leid der einen und dem bewundernswerten Mut der anderen, die menschlich geblieben waren.

Jeder von uns sollte sich aber auch erinnern um, wie Rita Süßmuth es formuliert hat, zukunftsfähig zu sein, unsere Gegenwart zu bestehen, unseren Staat und unsere Gesellschaft für uns, unsere Kinder und Enkel, lebens- und liebenswert zu erhalten, eine Ordnung der Freiheit, der Gleichberechtigung, des Rechts und des Friedens. Dass wir sie im Augenblick haben, erscheint uns selbstverständlich.

Vor ein paar Tagen habe ich dazu von einem klugen Autor gelesen: Junge Menschen, an deren Haustür es nachts um drei Uhr heftig klopft, denken heute, die Freundin oder der Freund hätten mal wieder zu viel getrunken und den Schlüssel verloren. Vor achtzig Jahren wusste man, wer um diese Zeit an die Haustür hämmerte, Männer in Ledermänteln, die zum Verhör unter Folter und zum Tod abführten. Was könnte es bedeuten, wenn es in zehn oder zwanzig Jahren an der Haustür der heute noch jungen Menschen klopft?

Erinnerung begründet ein Bewusstsein der Gefährdung. Jan Philipp Reemtsma, ein großer Sozialwissenschaftler, der einmal, 1996, als Geisel von Verbrechern, 33 Tage in einer Art Sarg gefesselt war und in der Folge viel Kluges über das Opferdasein erforscht hat, hat einmal geschrieben: Es ist eine Illusion, dass der Zivilisationsprozess unumkehrbar ist. Und Primo Levi, ein Überlebender des Holocaust und italienischer Schriftsteller, hat gemahnt: Es ist geschehen, also kann es wieder geschehen.

Daher müssen wir uns mit der Betrachtung dessen, was geschehen ist, bildlich gesprochen an die Seite der Opfer stellen, aus Respekt vor ihrem Leid, aber auch, um nicht selbst Opfer zu werden, und müssen uns zugleich gegen alle die stellen, die ihre wahren Ziele manchmal aussprechen wie jene am Lehnitzsee oder in der Wannseekonferenz, sie aber oft verbergen hinter Floskeln und Dementis oder Fakes aus Moskau oder Teheran.

Der neue Madagaskarplan kann jüdische Menschen, die zur Zeit in Angst und Sorge leben, betreffen, betrifft aber alle: In Deutschland leben, um es anschaulich zu machen, 24 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, davon sind 15 Millionen Deutsche. Schauen Sie neben sich, meine sehr geehrten Damen und Herren, schauen Sie sich um und zählen Sie ab: 1,2,3,4, die oder der fünfte wäre ein potenziell zu Deportierender, wie groß ist Ihre weitere Familie, wie groß die Zahl Ihrer Freunde und Bekannten? Jeder Fünfte. Wer das sieht, darf nicht, wie es in den Jahren der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten geschehen war, die Fensterläden herunterlassen, die Haustüren schließen und heimlich beten, dass es vorübergeht. Ich formuliere einen Gedanken Niemöllers fort: Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten (und Menschen des katholischen Zentrums, behinderte Menschen, Homosexuelle, Sinti - und Roma), habe ich geschwiegen, ich war ja keiner von denen.  Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter.“ Als sie die Juden holten, nun, ich war ja kein Jude. „Als sie dann mich holten, da gab es keinen mehr, der hätte sprechen können.“

Dort wo wir alltäglich stehen, leben, arbeiten, vergnügt sind, müssen wir eine rote Karte mit uns tragen und, wenn wir Hass und Hetze hören, oder wenn wir auch nur hören, dann lass sie doch mal machen, sie haben doch viele Unterstützer, diese Karte vorzeigen und erklären: Nicht Du bist das Volk, wir sind es, Verfassungspatrioten, rot oder grün, liberal oder konservativ, wir, von denen die einen finden, dass wir doch ganz gut aus all den Krisen geführt wurden und es uns so schlecht doch nicht geht, von denen die anderen, verständlicherweise irritiert oder empört den Kopf schütteln, wenn wir wieder einmal verquere Nachrichten aus Berlin lesen, wir sind alle Patrioten, wir haben ein gemeinsames Haus, in dieser Republik dürfen wir uns kräftig streiten, wer welches Zimmer bewohnen darf, wir dürfen das Haus aber nicht abbrennen, weil dann kein Zimmer mehr zur Verfügung steht, in dem wir wohnen könnten.

Am 27.01.2024 erinnern wir an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz um uns zu vergegenwärtigen, dass Menschen aus purem Rassenhass andere Menschen planvoll gequält und barbarisch ermordet hatten. Was hat der 27.1.2024 mit dem 7.10.2023 zu tun, jenem von den Verbrechern der Hamas inszenierten Freudentag des Vergewaltigens, Folterns und Tötens? Beide Tage sind Marksteine, die uns bewusst machen, was der Hass auf jüdische Menschen an menschlichen Ungeheuern und Bestien, an Barbarei, erzeugt.

Und manchmal ist es schwierig zwischen dem abgrundtief Bösen und dem Richtigen zu unterscheiden. Müssen wir Israels Vorgehen in Gaza nicht auch verurteilen?

Vor vielen, vielen Monaten hat mir ein Bekannter, der ein paar Wochen zuvor in Israel war schwärmend von Tel Aviv erzählt, von freundlichen Menschen und einer begeisternden Stadt. So nebenbei hat er erzählt, weißt Du, in Tel Aviv gibt es eine Unzahl von Kinderspielplätzen, er war mit seiner kleinen Tochter dort. Auf jedem dieser Kinderspielplätze gibt es Betonrohre, weißt Du, wie bei uns wo sich die Kinder gern verstecken. Die sind nur etwas anders, der Beton ist anders. Sie sind auch nicht zum Verstecken vor den Spielkamerad:innen da. Sie sind da, um vor den Raketen, vor den Drohnen, vor den Angriffen, die nahezu Tag für Tag Luftalarm in Tel Aviv auslösen, zu schützen. Haben Sie, wenn Sie Bilder aus Gaza sehen, auch Bilder aus Tel Aviv vor Augen!

Um jegliche Missverständnisse vorweg auszuräumen: Ich, wie vermutlich Sie alle, trauere tief um jedes in den entsetzlichen Kriegswirren in Gaza getötete Kind, jede Frau, jeden unschuldigen Mann palästinensischer Herkunft. Ich, wie vermutlich Sie alle, wir wünschen uns Frieden und Gerechtigkeit für die palästinensischen Menschen, die auch die Geiseln der Mörderbande Hamas sind, wir wünschen uns für sie, dass sie einen eigenen freien und menschenwürdigen Staat gründen und darin selbstbestimmt leben können. Aber das darf nicht, wie es gegenwärtig manchen gerade auch im vermeintlich linken politischen Spektrum anfällt, veranlassen zu übersehen: Die wesentliche, die auslösende und richtungweisende Ursache für das, was im Nahen Osten zur Zeit geschieht, ist die Mordlust, sind die Verbrechen der Hamas, die von den Freudentaumeln angeblich „propalästinensischer“ Demonstranten in deutschen Großstädten in ihrer Abscheulichkeit nur noch unterstrichen werden. 

Und diese Ursache hat Ursachen in der völkermörderischen Ideologie dieser islamistischen Verbrecherorganisation, die sich Befreiungsbewegung nennt, in Wirklichkeit nur von einem befreien will: von Recht und Würde im Sinne eines Kalifatstaats des dunkelsten Mittelalters. Die Idee ist maßgeblich beeinflusst von dem früheren Großmufti von Jerusalem, Amin Al-Husseini, eines Bewunderers von Hitler, eines fanatischen Islamisten, der, nachdem er aus französischer Gefangenschaft 1946 entkommen war, in Kairo von dem Gründer der Muslimbruderschaft mit den Worten begrüßt wurde: „Die Niederlage Hitlers hat dich nicht entmutigt. Du bist voller Kampfesgeist. Was für ein Held, Deutschland und Hitler sind nicht mehr, doch Amin Al- Husseini wird den Kampf fortführen.“ Durch die Hamas.

Das ist das, was wir als Missing Link zwischen dem 7.10.2023 und dem 27.01.1945 oder 2024 erkennen können: Eine an Brutalität, Grausamkeit und Bestialität nicht zu überbietende Ideologie, von der ich glücklicherweise sicher bin, dass die ganz große Mehrheit der Muslime in unserem Land, unserer palästinensischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, sie nicht teilen, sie verurteilen und widerwärtig finden, wie wir alle dies tun. Ich würde mir wünschen, diese Mitbürgerinnen und Mitbürger würden das ein wenig klarer zum Ausdruck bringen, es fiele uns etwas leichter, ihr Leid zu teilen.

Leider sehen Menschen hier, die sich für Intellektuelle halten, bedeutende Schriftsteller und Künstler, das anders. An deutschen, britischen, an amerikanischen großen Universitäten, wird die deutsche Haltung zu Israel missbilligt und bekämpft. An deutschen Universitäten und Schulen, leider auch saarländischen, werden jüdische junge Menschen verunglimpft und verbal attackiert. Jüdische Menschen trauen sich nicht mehr, eine Kippa oder einen Davidstern als Schmuck zu tragen, Häuser, in denen sie wohnen, werden mit einem Davidstern markiert, so wie die Judensterne im Dritten Reich Häuser und Geschäfte markiert haben. Und eben diese vermeintlichen Intellektuellen, Schriftsteller, Künstler beklagen in zahlreichen offenen Briefen, Abhandlungen in Zeitschriften, Medienbeiträgen, Interviews, sie litten unter der Zensur, die es in Deutschland gebe, dem Sprechverbot und Schweigegebot, das ihre Kritik an Israel zur Folge habe – diese Zensur beklagen sie in zahlreichen offenen Briefen, Abhandlungen in Zeitschriften, Medienbeiträgen, Interviews. Natürlich sind das nicht alle Antisemiten, manche aber schon.

Wir können stolz darauf sein, dass wir Spuren suchen, uns einer Vergangenheit stellen, den Opfern Respekt erweisen und lernen, wie wir Gefahren erkennen und abwenden können. Und all die, die heute meinen, auf Krisen und politische Streitereien mit einem braunen Kreuz antworten zu können, sollten sich an einen wirklich großen deutschen Philosophen erinnern, der uns gemahnt hat:

Habe den Mut, Dich Deines aufgeklärten Verstandes zu bedienen. Seien Sie mutig, gegenüber Verschwörungsfantasien, extremistischen Parolen aller Seiten, gruppenbezogenem Menschenhass, Sie, wir, haben die Chance, Wirklichkeit bleiben zu lassen, was unsere Verfassung verspricht. Die Würde des Menschen ist unantastbar.

 

 

Vortrag vor der Ärtzekammer des Saarlandes

Montag, 21. November 2022 

Am 30. Juli 2022 hat es Frau Dr. Lisa-Maria Kellermayr, 37, Hausärztin am Attersee nicht weit entfernt von Salzburg – und von Braunau – , die unermüdlich für Impfungen geworben hatte, nicht mehr ertragen. Im Netz ununterbrochen mit Hinrichtung und Abschlachtung auch ihrer Angestellten bedroht, „in den Tod gehasst“, hat sie den Freitod gewählt. Die oberösterreichische Ärztekammer hatte auf ihre Hilferufe geschwiegen, Polizei und Staatsanwaltschaft in Wels hatten ihr geraten, das mit den Ratschlägen zur Impfung doch zu lassen. 

Natürlich hat diese Geschichte nichts mit unserem heutigen Zusammentreffen zu tun, damit, dass vor acht Jahrzehnten Ärztinnen und Ärzte an Oder und Spree, Rhein, Mosel und Saar angegriffen, verhetzt, entrechtet, vertrieben, verschleppt und, oft genug, in die Gaskammern geprügelt wurden, nur weil sie jüdisch waren. Und, so tragisch der Freitod der Ärztin auch ist, nichts liegt mir ferner als einen Vergleich mit dem Weg zu ziehen, der zu dem singulären Menschheitsverbrechen der Shoa geführt hat. Natürlich ist das also eine andere Geschichte. Ist sie aber nicht doch Anlass zum Nachdenken über strukturelle Ähnlichkeiten?

Fast die Hälfte aller Deutschen findet, das Gedenken an die Gewalt- und Willkürherrschaft des Dritten Reichs müsse endlich enden. Heute Abend sind wir also, wenn man will, eine woke Minderheit. Vielleicht ist aber der ein oder andere hier doch auch erschöpft vom Erinnern, und will nur guten Willen zeigen?

Mit manchen „Hälften“ hadert man. Sie antworten nämlich auf Fragen, die falsch oder besser ungenau gestellt sind. Ich möchte versuchen, genauere zu stellen und so um neue Mehrheiten zu werben. Meine These ist: Heute und all die Mahnmal-Tage dieser Monate und Jahre beschwören wir in Wirklichkeit keine Vergangenheit, sondern setzen uns unserer Gegenwart und Zukunft aus. Und das nicht nur, weil wir alle paar Tage wieder von neuen Menschheitsverbrechen hören, sondern weil es für unsere Kinder und Enkel wichtig ist.

Warum erinnern wir uns also an jüdische Ärztinnen und Ärzte, deren Tätigkeit im Saarland verboten oder unmöglich gemacht wurde, denen mit der 4. Verordnung zum Reichsbürgergesetz – § 1: Bestallungen jüdischer Ärzte erlöschen zum 30.09.1938 und § 3: Juden ist es verboten, die Heilkunde auszuüben –  die Approbation entzogen, deren Promotion widerrufen, deren Praxen geschlossen wurden, die enteignet, vertrieben, gefoltert und manche gar ermordet wurden?

Die erste sehr angemessene Antwort ist: Um uns mit Anstand und Respekt vor den Opfern dunkler Zeiten zu verneigen.

Die zweite gleichermaßen angemessene hat Ihre Kollegin Gisela Tascher in ihren tief beeindruckenden Studien gegeben: Um diesen Ärztinnen und Ärzten ihre Würde wieder zu gewähren. Dabei hat sie im Übrigen bescheiden unterlassen zu erwähnen, dass es dem, der eine Würde restituiert, auch darum gehen muss, sich selbst als würdig zu erweisen, einen freiheitlichen Rechtsstaat zu repräsentieren, einen Beruf auszuüben, der zu den schönsten und wichtigsten gehört, die dem Leben und der Integrität von Menschen gewidmet sind, darum, der „Berufung“ von Ärztinnen und Ärzten gerecht zu werden.

Aber es gibt noch einen dritten Grund.

Als am 10.11.1938 in Völklingen-Luisenthal die Praxis und das Privathaus des hochangesehenen jüdischen Arztes Dr. Rudolf Fromm von einer Meute des „gerechten Volkszorns“ – so nannte Josef Goebbels das – angegriffen und er geschlagen wurde, in „Schutzhaft“, wie das damals hieß, genommen und wenig später nach Dachau verschleppt wurde, als seine Habseligkeiten geraubt, sein Anwesen geplündert wurden, da waren die Rädelsführer vor Ort ja nicht Hitler, Himmler oder Heydrich, nicht einmal Bürckel, der Gauleiter, der dem Führer versprochen hatte, die Saar binnen Kurzem „judenfrei“ zu machen, es waren ein Völklinger Uhrmacher, ein Schneider, ein Bergmann aus Luisenthal. 1947 wurden diese Täter vom Landgericht Saarbrücken wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu geringstmöglichen Strafen verurteilt, weil es ja Schlimmeres hätte geben können. Sie wurden dann sogar nur Monate später begnadigt von einem hohem saarländischen Juristen, der sich mit der Sache auskannte, der nämlich als grausamer Vorsitzender des Sondergerichts Posen bis Kriegsende unzählige Todesurteile gegen polnische Fremdarbeiter wegen Nichtigkeiten verhängt hatte, der problemlos im Saarland weiterrichten und später sogar von der Bundesregierung mit einer Mitgliedschaft in einem internationalen Schiedsgericht geehrt wurde.

Im Übrigen: Die Praxis und das Anwesen von Dr. Rudolf Fromm hatte wenig später ein anderer Arzt preiswert „erworben“, die Praxis fortgeführt. Er blieb unbehelligt.

Es sind solche Ausbrüche von Gewalt und solche Kontinuitäten, die uns nach dem Sinn von Erinnerung fragen lassen. 

Mittlerweile ist es fast schon selbstverständlich geworden zu sagen, es geht nicht um Schuld. Schuldige sind tot. Nachgeborene können nicht schuldig sein. Ich wiederhole das ausdrücklich.

Mittlerweile ist es fast schon selbstverständlich geworden zu sagen, es geht um Verantwortung: Wir müssen Sorge tragen, dass unser freiheitlicher demokratischer Rechtsstaat verteidigt wird, und dass die immer stärker gefährdete Friedlichkeit unserer Gesellschaft vor den neuen Verhetzungen und Verletzungen wie in Völklingen-Luisenthal oder am Attersee geschützt wird. Es geht darum, dass nicht wieder Menschen zu Tode gehasst werden. 

Leider ist nur das Sagen selbstverständlich, wer die täglichen abartigen Abscheulichkeiten in Bezug auf Menschen, die anderer ethnischer Herkunft, anderer sexueller Identität, oder auch nur anderer politischer Meinung sind, im Netz lesen muss, wer die judenfeindlichen Plakate in Saarlouis um den 09.11.2022 herum gesehen, wer vor ein paar Tagen die sorgfältig gezeichneten Hakenkreuze an der Universität des Saarlandes beobachtet hat, weiß um die Wirklichkeit.

Verantwortung zu tragen, dazu genügt es leider nicht, dass wir – im Wohlgefühl zu den Guten zu gehören – solche Gedenkreden halten oder ihnen zustimmen. Keiner hier gehört zu den Teilnehmenden dieser Internetpogromaufrufe. Und die, die sie veranstalten, sind nicht hier und hören ohnehin nicht zu. 

Daher sind Widerspruch und Widerstand im Alltag notwendig. Immer dann, wenn wir die Zeichen der mentalen Verrohung oder auch nur einer vermeintlich sachlich daherkommenden Diskriminierung sehen – in einer Anwaltskanzlei, in einer Arztpraxis, in einer Gaststätte oder einer privaten Unterhaltung – sind Zeichen eines jeden von uns notwendig, dass es Grenzen des Sagbaren gibt, keine stummen Zeichen, beredte.

Mein Gott ja, werden viele sagen, sehen wir doch, machen wir doch. Ist voll in Ordnung, was der Beauftragte da sagt. Muss das denn ständig wiederholt werden? Das birgt eine Gefahr.

Dabei geht nämlich etwas verloren. Und das ist meine dritte Überlegung nach meinem Nein zur Schuld und meinem Ja zur Verantwortungsübernahme. Verloren geht: Die Suche nach Erkenntnis. 

Wir trauern um jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger, die uns eine Leere hinterlassen. Das gebietet uns der Respekt. Wir verurteilen die Täter. Das ist ein wenig wohlfeil nach 90 Jahren aber in Ordnung. 

Aber wir fragen viel zu wenig, wie es geschehen konnte, dass ganz normale Bürger, ganz normale Ärzte, ganz normale Juristen, ein Uhrmacher, ein Schneider, ein Bergmann, wie aus Dr. Jekylls Mr. Hydes werden konnten. 

Wieso haben Ärzte ganz gerne die Praxen ihrer verfemten jüdischen Kollegen übernommen, wieso haben Richter in Saarbrücken polnische Zwangsarbeiter für den Diebstahl eines Fahrrads zum Tode verurteilt, nachdem sie die Planstellen ihrer aus dem Dienst entfernten jüdischen Kollegen übernommen hatten, wieso haben Universitätsprofessoren die Lehrstühle ihrer jüdischen vormaligen Mentoren gerne übernommen und sich nach dem Krieg gerechtfertigt, sie hätten ja nur Schlimmeres verhüten wollen und doch nur verständliche Angst um ihr Fortkommen gehabt? Wieso haben in der Reichspogromnacht 1938 nicht nur Hunderttausende geschwiegen und betreten die Rollläden herabgelassen, wieso haben Zehntausende – im Saarland Aberhunderte „normale“ Bürgerinnen und Bürger – mitgebrandschatzt? 

Mir ist dabei wichtig: Das ist keine Frage von oben herab. Ich überlege mir immer wieder und freue mich über jeden, der es auch tut: Was hätte ich selbst in diesen Zeiten, in denen es keine Komfortzonen gab, getan? Bin ich mir meiner, dürfen wir uns unser so sicher sein?

Noch schärfer hingeschaut: Wieso haben Ärzte – und glauben sie mir, stünde ich vor Juristen oder Pädagogen würde ich nichts Anderes sagen können – den Rassenwahn und die Abartigkeiten der industrialisierten Vernichtung von Juden (und anderen) mitgemacht? Das sind doch nicht Tausende von dissozialen Persönlichkeiten gewesen, Verbrecher aus nie vorhandener Ehre, Menschen, die in den Worten des Strafrechts an einer schweren seelischen Abartigkeit litten, Menschen, die abgrundtief seelisch verroht und psychisch schwer krank waren?

Wir begegnen ihnen aber in den Abgründen und der Finsternis auch der Medizin, gebildeten Menschen aus bürgerlichen, sogar religiösen Familien, die an der Rampe in Auschwitz Melodien der deutschen Klassik gesummt haben, bevor sie Menschen selektiert habe, nach rechts zum Zyklon B, nach links in die  Unterdruckkammern, die sie dort qualvoll getötet haben, ihre Schreie gehört, den Schaum vor den Mündern der Sterbenden, das Aussetzen der Atmung gesehen haben, nach sechzig Minuten konnte die Sektion beginnen, die feststellen sollte, wie die Organe der Gefolterten sich verändert hatten. Wir begegnen ihnen in Berichten über Zwillinge, der eine mit einem Bakteriencocktail zu Tode verseucht, der andere dann vom Arzt oder seinen Helfern erschossen und aufgeschnitten um zu vergleichen. Wir begegnen ihnen, wenn wir hören, dass Neugeborenen Farbstoff in die Augen injiziert wurde, bevor die Augen herausoperiert und zur schmetterlingsgleichen Sammlung im Arztzimmer angenadelt wurden. 

Jüdische Häftlingsärzte, die bei diesen „Spezialoperationen“ assistieren mussten, haben in Ärzteprozessen ausgesagt: Das waren bei weitem nicht alle sadistische Verbrecher. Aber sie waren von besessener Seelenlosigkeit, empfindungslose Folterer und Mörder, die Wert darauf gelegt hatten, wissenschaftlich als Arzt zu arbeiten.

Einer der führenden NS-Mediziner hat im Nürnberger Ärzteprozess unberührt erklärt: Man möge bedenken, er sei ja verantwortlich im Falle des Weiterlebens der von ihm Getöteten gewesen, er habe daher Schuldgefühle gehabt, dass die Selektion nicht rigoros genug gewesen sein könnte. Ein anderer hoher Ärztefunktionär hat es schon Mitte der dreißiger Jahre öffentlich gesagt: Ratten, Wanzen und Flöhe sind „auch Naturerscheinungen und gottgegeben, wie Zigeuner und Juden, man kann sie nicht ändern, wir müssen diese Schädlinge eben allmählich ausrotten“. 

Wenn ich mit jungen  Menschen spreche über die Bedeutung der Auseinandersetzung mit dem verbrecherischen Regime des Nationalsozialismus, in das Millionen normale Deutsche verstrickt waren, wenn ich so ratlos gegenüber ihrer Kälte oder Unberührtheit bin, frage ich mich: Wie lehrt man eigentlich Empathie, Herzensbildung, die vor all dem wappnen kann, was damals geschehen ist, was heute geschieht, so weit entfernt ist Butscha nicht. Wirklich beantworten kann ich das nicht. 

Oder ist heute Abend doch so ein ganz kleines Stück Antwort?

Vielleicht sind es ja die immer wieder schwer erträglichen erinnerten Geschichten, die empfindsam machen können. Deshalb muss gedacht und erinnert werden, um resilient zu machen gegenüber schon den Anfängen einer Wiederkehr, also auch gegenüber der Gegenwart des zu Tode Hassens. 

Wer die Abscheulichkeiten bei Twitter liest, die die Ärztin Dr. Lisa-Maria Kellermayr in den Freitod getrieben haben, der kann Vergangenheit und Gegenwart gedanklich miteinander schon verbinden. Der steht vor einer Gedenktafel wie der der saarländischen Ärzteschaft, der man dafür nur aufrichtig danken kann, der steht hier in dem Bewusstsein, dass es keine ganz interessante Archivarbeit, keine Archäologie des letzten Jahrhunderts ist, sondern dieses Gedenken das Gefühl der Betroffenheit, der Erschütterung, dass es die Gegenwart betrifft. 

Menschen waren nicht nur, sie sind verführbar. Und je mehr Macht sie haben – in ihren Berufen oder in der abgedunkelten Heimlichkeit ihrer Accounts auf sozialen Netzwerken – desto größer ist die Gefahr des Missbrauchs. Der Schlaf der Vernunft, malt Goya, gebiert Ungeheuer. 

Daher bin ich Ihnen, der saarländischen Ärzteschaft, dankbar für die Chance, die diese Tafel des Gedenkens an jüdische Ärztinnen und Ärzte im Saarland bietet. Weil wir uns damit an die Seite der Opfer stellen. Weil wir Ihnen Respekt erweisen. Weil wir uns vornehmen können mutig zu sein und redlich zu versprechen offen zu widerstehen, wenn andere ausgegrenzt werden, wenn ihre „Bestallung“ als gleichberechtigte Mitbürger und Mitbürgerinnen angetastet wird. Weil das Gedenken uns Gelegenheit gibt, uns unserer Verführbarkeit durch Einfluss und Reputation, Geld und Forscherungeist, bewusst zu werden, und weil wir uns vielleicht vornehmen ein Vorbild zu sein, zu lernen und zu lehren, das Leiden Anderer mitzuempfinden. 

Mit dieser Erinnerung zeigt die saarländische Ärzteschaft daher in friedloser werdenden Zeiten Gesicht. Für dieses Gesicht, dieses Vorbild, diese Geste des Respekts danke ich Ihnen ebenso wie für Ihre Geduld beim Zuhören.

Der Beauftragte während seiner Rede in der Ärztekammer

Ansprache anlässlich des Holocaust Gedenktages

Donnerstag, 27. Januar 2022 in der Congresshalle Saarbrücken

Gedenken ist ein fragiles Unternehmen. In diesen Tagen mahnt im Angesicht der millionenfachen Morde des nationalsozialistischen Terrors einmal wieder ein namhafter Historiker in einer namhaften Zeitung, doch endlich zu vergessen, die „Untaten“, wenn überhaupt, „sachlich und nüchtern“ zu betrachten, die unaufhörlichen Präsentationen der Schande zu beenden. Man erträgt die Worte kaum, aber viele, so wissen wir, spenden ihm Beifall.

Der große amerikanische Schriftsteller James Baldwin hat, das Schicksal der schwarzen Amerikaner in ihren Gettos betrachtend, geschrieben: „Geschichte ist nicht Vergangenheit, sie ist Gegenwart. Wir tragen unsere Geschichte mit uns. Wir sind unsere Geschichte.“

Welch tiefe Wahrheit diese Worte im Angesicht der Shoa haben, wie grundverkehrt und wirklichkeitsfern alle Versuche sind, die im Rauch über den Krematorien verflogenen Gräber der Ermordeten aufzulassen und ihre Asche auf den Feldern vor Auschwitz, Sobibor oder Treblinka in ein namenloses Nichts sickern zu lassen, zeigt sich, wenn wir redlich mit uns sind. Vergangenheit ist nicht vergessen und kann gar nicht vergessen werden, sie ist uns allen gegenwärtig, so sehr sich manche um einen Schlussvorhang bemühen, auch denen, die für Vergessen plädieren.

Natürlich: kaum ein Täter lebt noch. Zeitzeugen gehen von uns. Aber die seelischen Verletzungen der Vernichtungsorgien leben und wirken fort.

So lesen wir heute die Erinnerungen der unter uns lebenden  Kinder und Enkel von Tätern, des Sohnes des Schlächters von Polen, der Enkelin des Kommandanten des KZ Plaszow, die sich mit ihrem verseuchten Erbe aufrichtig quälen. Das ist also gegenwärtig, nicht bei jedem in Deutschland natürlich, aber bei manchen.

So lesen wir heute die mit ihrer Kindheit verwobenen Erinnerungen der unter uns lebenden Nachkommen der jüdischen Opfer an die Erzählungen in ihrer Familie. Von den Selektionen an der Rampe nach den sofort zu tötenden Frauen, Kindern und Alten und den für ein paar Wochen noch arbeitsfähigen Männern, von den todkalten Blicken eines Arztes auf geeignete menschliche Objekte für seine abartigen Versuche, von den Peitschen der Wachleute, von den ersten Unternehmen des NS-Staates, in den Gaskammern zusammengepferchte jüdische Menschen mit Dieselabgasen über Stunden hinweg zu ersticken. Vom Hunger, Folter und dem Geruch brennenden Fleisches. Davon, dass Überlebende nach dem Ende des Terrors vor ihren Kindern geschwiegen haben und sich erst Jahre später ihren Enkeln, unseren Mitbürgern gegenüber, ein wenig geöffnet haben. . Die Erinnerungen an die Erzählungen sind gegenwärtig in Deutschland, Die Zeitzeugenschaft ist zeitlos in den Familien der Nachkommen und jenen mancher Täter. Sie ist und bleibt ein Teil der eigenen Identität.

Und was anderes als die Gegenwart der Vergangenheit ist es, wenn wirre Köpfe Kerzen auf Stolpersteine stellen und sich den jüdischen Mordopfern gleichgestellt sehen durch den Versuch des Staates, uns alle vor einem tödlichen Virus zu schützen? Was ist es anderes als die Gegenwart von Geschichte, wenn Rapper skandieren, ihr Körper sei definierter als der ausgemergelte von Auschwitzinsassen, und rufen, „mach doch mal wieder `nen Holocaust.“ Was ist es anderes als Gegenwart, wenn Internetspiele Highscoretabellen nach der Zahl der getöteten Juden anbieten und Todeslisten abrufbar sind, die zur Priorisierung des Mordaufrufs den Zielnamen Davidsterne beifügen? Geschichte ist nicht Vergangenheit, wir tragen sie mit uns.

Das zeigt aber nur, dass die Erinnerung gegenwärtig ist, sagt aber noch nicht, warum es nicht genügt, sie in Geschichtsbüchern zu referieren, warum wir grausame Geschichten erzählen und furchtbare Bilder brauchen, warum wir uns nicht abwenden dürfen.

Ich mute Ihnen das jetzt zu, es ist nur eine von ungezählten Überlieferungen: Die Enkelin zweier ihrer das Konzentrationslager überlebender Großeltern spricht in dem kleinen Band „Leben mit Auschwitz“ über eine der vielen unerträglichen Geschichten, die wir, so meine ich, ertragen müssen. Ihr Großvater, den sie sehr geliebt und den sie erlebt hat, wie er die Last der Erinnerung kaum mehr ertragend, eine Schusswaffe gegen sich gerichtet. Er hat ihr danach erzählt und sie erzählt es weiter als Teil der eigenen Geschichte: Mein Opa ist mit Frau und Kindern nach Auschwitz gekommen. Aus dem Viehwaggon gezerrt hatte er das jüngste Kind, ein Baby, auf dem Arm. Das habe bitterlich geweint. Ein SS-Mann habe es ihm wegnehmen wollen. Lassen Sie mich es doch kurz beruhigen, habe ihr Opa gesagt. Da habe der SS-Mann erwidert, keine Sorge, ich beruhige es schon, das Baby an den Beinen weggerissen und mit dem Kopf gegen den Viehwaggon geschlagen. Es war sofort tot. „Mein Opa“, so sagt sie, „hat mir in meiner Kindheit nicht viel erzählt. Das mit dem Baby, das immer wieder.“ Das gehört also zu den wachen Alpträumen heute Lebender.

Warum also tun wir uns solche Geschichten an?

Zwei Gründe sind es, weswegen wir es nicht tun.

Der erste Grund: Vergangenheit bewältigen. Vergangenheit kann nicht bewältigt werden.

Der zweite Grund: Schuld bekennen. Schuld trägt, wer ein Verbrechen begangen hat. Schuld wird nicht vererbt, Schuld trägt kein Kollektiv, kein Volk von Nachfahren. Nichtschuldige Nachgeborene haben nichts zu sühnen.

Aber wir alle tragen gerade in Deutschland Verantwortung dafür, dass wir keine neue Schuld, keinen neuen grauenvollen Hass auf andere Menschen auf uns laden, sie ausgrenzen, verfolgen und verletzen, nur weil sie eine andere historische Identität, eine andere Kultur, eine andere Religion haben. Wir tragen Verantwortung Vorkehrungen zu treffen, damit die Zeiten der Finsternis nicht wiederkehren und das Gift, das zu Shoa geführt hat, nicht wieder schleichend zu wirken beginnt. Geschichte wird sich, so sind wir, vielleicht ein bisschen bange, gewiss nicht so wiederholen, aber sie kann wie ein Virus wiederkehren, wandlungs- und anpassungsfähig, und unser Immunsystem auf die Probe stellen. Sie, die Probe, müssen wir Heutigen bestehen, wenn wir die Unantastbarkeit der Menschenwürde, Freiheit und Frieden bewahren wollen.

Zwei Gründe sind es daher umgekehrt, weswegen wir nicht vergessen dürfen: Weil wir wissen, dass es nicht einen Täter gab, sondern Hunderttausend, dass es nicht einen Mitwisser gab, sondern Millionen mitgewusst oder mitgeahnt haben, weil es nicht nur SS und Gestapo gab, sondern Heerscharen von Mitläufern und Gehilfen. Das Protokoll der Wannsee-Konferenz beweist es amtlich, dass es hohe Offiziere, hohe Beamte gab, ausgebildet und aufgewachsen in einer demokratischen Republik, deren Sorge nicht dem Sterben der Menschen in Auschwitz galt, sondern seiner Perfektionierung, und allenfalls noch der seelischen Gesundheit derer, die das Zyklon B in die Schächte geworfen haben.

Was fehlte solchen Menschen, Hunderttausenden, damals, ich frage mich das immer wieder? Es war nicht das Wissen um das Verbrecherische ihres Tuns, sonst hätten sie es nicht versucht zu verbergen-Was ihnen fehlte, war auch nicht nur der Mut zu widerstehen, das auch. Was fehlte, war vor allem jegliche Empathie, jegliches Mitgefühl mit dem Leiden Anderer, jeglicher Respekt vor dem Leben und der Würde der geschundenen Opfer. Was fehlte, war Herzensbildung. Die hat man nicht, die muss man lernen.

Und wenn wir nicht nur von den heutigen Verletzungen, sondern von dem wild geifernden Hass im Netz lesen, von dem Zehntel unserer Mitmenschen, die manifeste Antisemiten sind, von dem Fünftel, die es latent sind, dann wissen wir, es ist an der Zeit am Mut und an der Herzensbildung zu arbeiten. Dazu genügen keine historischen Seminare. Der Grund für die grausamen Bilder und die grausamen Geschichten ist – für mich – eine große Hoffnung, die der Auschwitzüberlebende und israelische Künstler Yehuda Bacon wunderbar formuliert: „Man kann die Menschen für das Gute erschüttern.“

Ein zweites nicht minder Wichtiges gebietet uns Erinnerung:

Nach Halle hat eine junge amerikanische Rabbinerin, die dabei gewesen war, von der Angst jüdischer Menschen in Deutschland berichtet. Und sie hat dann ihre jüdischen Mitmenschen aufgerufen zu leben, lebendig ihre Kultur und ihren Glauben auszuüben, aufgerufen auf Hebräisch Chai.

Dazu beizutragen gehört zu unserer Verantwortung. Gedenken bedeutet daher auch, uns an die Seite der heutigen Nachfahren früherer Opfer und der heute mit uns Lebenden zu stellen. Michael Brumlik hat das einmal treffend genannt: Gedenken heißt „erinnernde Solidarität“ zu zeigen.

Für die Kraft, Menschen zum Guten zu erschüttern, und für die Bereitschaft, uns an die Seite derer zu stellen, zu deren seelischen Sedimenten die Verfolgung und Vernichtung ihrer Vorfahren gehört, für „erinnernde“ Solidarität, für die Kraft einer freiheitlichen Demokratie des Respekts, ist anschauliche Erinnerung, sind Tage wie dieser unverzichtbar.

Rede zum Gedenken an die Reichspogromnacht 

Dienstag, 09. November 2021 in der Saarbrücker Synagoge

 

„Meinst Du nicht“, bin ich vor ein paar Monaten gefragt worden, „meinst Du nicht, Du machst ein wenig viel Gewese um diesen Antisemitismus? Ein paar Hundert Hakenkreuze auf Hauswänden, eine paar Hundert Hitlerarme, ein paar Hundert Schmierereien ‚Juda verrecke‘ – Du meine Güte, wie viele Kinder werden jedes Jahr missbraucht, wie viele Frauen geschlagen und geschändet, wie viele Menschen in aller Welt sterben an Hunger und Durst. Und: Meinst Du nicht, den Leuten geht diese Erinnerungskultur so langsam auf den Geist?“

Hass und Hetze, das sind abstrakte Begriffe. Manchen, die sie ganz selbstverständlich ablehnen, fällt es doch schwer, mit ihnen etwas zu verbinden, was sie selbst berührt.

Also erzähle ich eine kleine wahre Geschichte, die Geschichte eines meiner ersten Erlebnisse nach meiner Beauftragung. An Ostern 2019 fand sich auf dem Anrufbeantworter der Synagogengemeinde Saarbrücken eine Nachricht, die Stimme von Hitler imitierend:

„In Buchenwald, in Buchenwald, da machen wir die Juden kalt. In Belsen, in Belsen, hängen wir sie an Felsen. Sie müssen wieder brennen, die Synagogen, der Judenabschaum, sie müssen wieder brennen.“

Ich weiß, dass es nicht einfach ist, solche Sätze zu hören, es ist auch nicht einfach, sie zu wiederholen. Aber nur dann, wenn wir sie wiederholen und wenn wir sie hören, vermögen wir ein Gefühl für ihre Bedeutung zu entwickeln. Und ihre Bedeutung liegt darin, dass es sich um Worte handelt, die 80 Jahre nach dem November 1938 gesprochen wurden, fünf Monate vor dem Anschlag von Halle. Ihre Bedeutung liegt darin, dass sie heute gesprochen worden sind, von einem 17jährigen Deutschen.

Der 09.11.1938 war in der deutschen Geschichte ein besonderer Tag. Josef Goebbels hatte ihn lange vorbereitet und die Entfesselung des Volkszorns genannt. Er hat diese Nacht, wie aus seinen Tagebüchern hervorgeht, genossen. Diejenigen, die versucht haben, der Verwüstung Einhalt zu gebieten, um deutsch-arisches Eigentum zu sichern, das von den Flammen der zu zerstörenden jüdischen Gebäude erfasst zu werden drohte, um der Vermögenswerte habhaft zu werden, die die jüdische Gemeinschaft noch bewahrte, um plündern und sich bereichern zu können, hat er zurückgewiesen. Josef Goebbels hat den totalen Vernichtungskrieg, den er später für alle Deutschen ausgerufen hat, für eine Gruppe deutscher Männer, Frauen und Kinder vorweggenommen.

Aber zur Wahrheit gehört: Josef Goebbels selbst hat keine Synagoge angezündet hat, er selbst hat keine Thorarolle zerfleddert, keine Wohnung einer jüdischen Nachbarin blindwütig zerstört, er war nur ein kalter, mordlustiger Beobachter dessen, was die Schergen der SA, die Horden der knüppelnden SA, die Rotten des NS-Kraftfahrkorps an Lunten gelegt haben.

Zugleich war er auch stolz darauf, dass es auch andere waren, vermeintliche Freunde, Nachbarn, Bürger, die ihren Kindern die Steine reichten, um die Glasscheiben, das „Kristall“ dieser Nacht, einzuwerfen, Überzeugte und Mitläufer, Habgierige und Verrohte, Täter und Zuschauer. Viele Menschen in Deutschland haben diese Brandschatzungen verurteilt, leider meist still und heimlich, wir dürfen uns nicht erheben, was hätten wir denn getan. Viele Menschen haben Mitleid gefühlt und klammheimlich – manche, wenige auch offen – gezeigt. Wir dürfen uns nicht erheben, wir sind nicht dabei gewesen und wir sind nicht vor eine Wahl gestellt gewesen. Gerade deshalb aber sollte uns die Erinnerung an diesen Tag, an die, die, vielleicht betreten, zugeschaut, die, vielleicht entsetzt, weggeschaut, die, die sich in ihre Wohnungen verkrochen und vielleicht sogar leise geweint haben, vielleicht sollten sie uns Anlass sein, ein paar Worte von Elie Wiesel, des Friedensnobelpreisträgers, zu wiederholen:

„Ich habe immer daran geglaubt, dass das Gegenteil von Liebe nicht Hass ist, sondern Gleichgültigkeit. Das Gegenteil von Glaube ist nicht Überheblichkeit, sondern Gleichgültigkeit. Das Gegenteil von Hoffnung ist nicht Verzweiflung, sondern es ist Gleichgültigkeit. Gleichgültigkeit ist nicht der Anfang eines Prozesses, sondern sein Ende. Wenn Sie die Wahl haben zwischen Verzweiflung und Gleichgültigkeit zu wählen, wählen Sie die Verzweiflung, nicht die Gleichgültigkeit. Denn aus Verzweiflung kann eine Botschaft hervorgehen, aber aus Gleichgültigkeit kann nichts hervorgehen.“

Deshalb müssen wir uns die Verzweiflung, die in dieser Nacht geboren wurde, vorstellen: Jeanine Meerapfel, eine bedeutende deutsch- argentinische Regisseurin und Präsidentin der Akademie der Künste Berlin, schreibt:

„Es ist schwer, sich die Angst und die Verzweiflung vorzustellen, die diese Nacht ausgelöst hat. Wenn ich versuche, mir das Geschehen vor Augen zu führen, das plötzlich alles in Frage stellte, jede Lebensordnung, jede Gewissheit, jede Selbstverständlichkeit des Alltags, packt mich die blanke Angst.“

Vor ein paar Tagen war ich in Gurs, dort, wo, kaum zwei Jahre nach dem 9. / 10.11. 1938, auf damals schlammig-kaltem grauen Land nach tagelanger Eisenbahnfahrt das Siechtum und Sterben saarländischer, pfälzischer und badischer deportierter Jüdinnen und Juden begann. Dort stehen heute auf einem weiten sorgsam gepflegten Feld im Angesicht der Pyrenäen Grabsteine, manche mit einigen Kieselsteinen der Erinnerung in Trauer geschmückt, wie es jüdischer Brauch ist: Emma Barth aus Illingen, Tilla Levy aus Merzig, Rosa Beer aus St. Ingbert, Anna Heymann aus Saarbrücken, Bertha Graber aus Homburg, Erna Berl aus St. Wendel, um nur, zufällig entdeckt, wenige zu nennen. Die Grabsteine markieren keine Gräber. Die Inschriften lauten jeweils weiter: Verschollen in Auschwitz. Dass sie die Namen derer tragen, deren wahre Grabstätte der Rauch über den Krematorien ist, soll sie lebendig in unserem Gedächtnis halten.

In der Tat, es ist schwer, sich diese Nacht der Finsternis und den ihr folgenden Tag der Schwärze vorzustellen, an denen die Rauchsäulen über den Trümmern der Synagogen andere Rauchsäulen vorangekündigt haben.

Es ist schwer sich vorzustellen, was alles in dieser Nacht auch verraten wurde: Nachbarschaften, Freundschaften, Würde.

Die Reichspogromnacht war die Nacht einer unendlichen Demütigung. Aber in Wirklichkeit haben sich die Täter mit ihren vom Rassenwahn verwahrlosten Seelen selbst gedemütigt: Der große österreichisch-deutsche-jüdische Psychiater Viktor Frankl hat schon recht, wenn er schreibt: In Wirklichkeit gibt es nur zwei Rassen, die Rasse der anständigen Menschen und die Rasse der Unanständigen.

Und nichts Anderes gilt es in dem Gedenken an diese Nacht zu erkennen, eine Nacht, die auch eine Begegnung ist, eine Begegnung des Menschen mit sich selbst, mit seinen Fähigkeiten und Unfähigkeiten, Mut zu haben oder nicht zu haben, mitzuempfinden oder stumm und taub und blind und fühllos zu bleiben, mit seinen Fähigkeiten standhaft zu sein oder mitzulaufen, ein Herz zu haben oder einen Stein an dessen Stelle.

Das Verlangen nach Erinnerung ist für mich alles andere als eine Empfehlung zu einer archivarischen Existenz. Es ist kein Ruf nach der Bewältigung einer Vergangenheit, die nicht bewältigt werden kann, weil sie nun einmal geschehen ist. Niemand kann heute Schuld sühnen, aber alle können wir Verantwortung übernehmen. Es geht darum, etwas zu finden, was uns vor den Gefahren einer Verwüstung unser Seelen schützt: Den Blick auf Unmenschlichkeit, den Blick auf Entwürdigung, den Blick auf Leiden. Es geht darum, ganz einfach, Herzensbildung zu gewinnen.

Nichts Anderes ist Sinn und Zweck der Erinnerung an den 09. und den 10. November 1938: Der Blick auf die Feuer in den Synagogen, auf die eingeworfenen Glasscheiben der Fenster der Geschäfte und Wohnungen jüdischer Deutscher. Der Blick auf die Bilder der ratlosen und entsetzten Augen der Kinder, die in diesem November 1938 in gar keiner Weise verstanden haben und verstehen konnten, was um sie geschah. Es geht um den Schutz vor zerstörerischen Bränden, vor einem Feuer, dessen geringster Schaden die Gebäude sind, dessen größter aber die Seelen der Menschen. Es geht um uns, heute.

Meinst Du nicht, hat jemand gefragt, meinst Du nicht, Du machst ein bisschen viel Gewese um Gedenken, Erinnern, Antisemitismus?

Nein. Das meine ich nicht.

Jubiläumsgottesdienst der Synagogengemeinde Saar anl. 75 Jahre Neugründung

Sonntag, 06. Juni 2021 in der Saarbrücker Synagoge

Neben dem Jubiläum „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ feiert die Synagogengemeinde Saar im Jahr 2021 zwei weitere Meilensteine ihrer Geschichte: zum einen wurde bereits im Jahre 1946, nur ein Jahr nach der Schoa  die Synagogengemeinde Saar in Saarbrücken neu gegründet. Fünf Jahre später wurde dann auch der Bau der neuen Synagoge an dem Ort, an dem sie sich heute befindet, fertig gestellt. Anlässlich dieser beiden Jubiläen veranstaltete die Synagogengemeinde Saar einen Gottesdienst in der Synagoge in Saarbrücken.

Nur eine begrenzte Auswahl an Gästen konnte persönlich am Gottesdienst teilnehmen und mitwirken, darunter der Ministerpräsident des Saarlandes, Herr Tobias Hans, der Oberbürgermeister der Stadt Saarbrücken, Herr Uwe Conradt, der Landtagspräsident, Herr Stephan Toscani und der Beauftragte für jüdisches Leben im Saarland und gegen Antisemitismus, Herr Prof. Roland Rixecker sowie der gesamte Vorstand und die Repräsentanz der Synagogengemeinde Saar.

Der vollständige Gottesdienst wurde im SR-Fernsehen live übertragen. Sie können ihn in voller Länge unter folgendem Link noch einmal anschauen: https://www.ardmediathek.de/video/beitraege/synagogengemeinde-feiert-75-jahre/sr-de/Y3JpZDovL3NyLW9ubGluZS5kZS9CRV9TUkRFXzEwMzU3Ng/

Rede des Beauftragten anl. Themengottesdienst der Evangelischen Kirchen für das Saarland "1700 Jahre Judentum in Deutschland" 

Sonntag, 06. Juni 2021 in der Ludwigskirche Saarbrücken

„Erinnerung“, so schreibt der libanesische Dichter Khalil Gibran, „Erinnerung ist eine Form der Begegnung.“ Im Jahr 2021 erinnern wir uns an 1700 Jahre jüdischer Geschichte in Deutschland, an ein Dokument des römischen Kaisers Konstantin, der im Jahr 321 Juden das Recht zugestand, Ratsherren im deutschen Teil seines Reiches zu werden. Das war zwar auch ein erstes Recht, das Juden gewährt wurde, in Wirklichkeit aber eine Pflicht: Ratsmitglieder mussten die finanziellen Lasten des Kaiserreichs und seiner Gemeinden tragen. Es war also der Beginn einer funktionalen Beziehung von Deutschen zu Juden: Wohlhabende Juden, wurden gelitten, zeitweise, arme litten nur auf der historischen Reise in das Jahr 2021 mit ihren wenigen hellen und zahlreichen tiefschwarzen Tagen und Nächten in Deutschland. Das heißt: 1700 Jahre jüdisches Leben ist also eine deutsche Geschichte, eine Geschichte, in deren Verlauf wir Deutschen uns selbst begegnen.

Wenn wir heute über jüdisches Leben sprechen, sprechen wir über die Shoa. Manche auf jüdischer Seite bezeichnen das als Gedächtnistheater, als eine Inszenierung, die eine neue deutsche Identität durch das Bekenntnis der Läuterung stiften soll. Juden schreibt der jüdische Autor Max Czollek, würden dazu an sich nicht unbedingt benötigt: Synagogen könne man auch ohne jüdische Beteiligung aufbauen, jüdische Museen von deutschen Leitern ausstatten lassen. Wichtig seien Juden eigentlich nur dort, wo sie – und das wäre wieder eine funktionale Beziehung – wo sie Deutschen, Czollek schreibt „den Nachfahren der Täter“, dazu dienten, sich mit der eigenen Gewaltgeschichte zu versöhnen. Mit der Vielfalt, der Diversität jüdischen Lebens, mit jüdischen Positionen habe dies alles nur teilweise zu tun.

Trifft das wirklich zu? Versagen wir jüdischen Menschen vielleicht Respekt, wenn wir sie nur als Opfer betrachten? Oder macht es gerade in diesem Jahr Sinn, zusammen mit der Erinnerung an die Shoa einmal zu schauen, den Juden in Deutschland eine eigene, stolze Stimme – besser gesagt viele viele unterschiedliche stolze Stimmen – zu geben oder besser zu lassen?

Natürlich müssen wir – immer wieder – über das Menschheitsverbrechen der industrialisierten Vernichtung von Millionen jüdischer Menschen sprechen. Dabei müssen wir aber nicht zuletzt wissen, „warum“ wir immer wieder darüber sprechen müssen: Nicht um uns Lebende zu geißeln, sondern damit wir dem nicht nur widerstehen, sondern es bekämpfen können, was in 1700 Jahren immer wieder leise angeschlichen kam und dann ausgebrochen ist, die hasserfüllte Ausgrenzung einer Gruppe von Menschen, die abartigen Verschwörungsfantasien – vom Hostienfrevel über die Ritualmorderfindung bis heute zur Pandemie als dem Teil einer jüdischen Machtergreifung.

Auch das sind katastrophale Seuchen, die die Vernunft unheilbar infizieren können, die den Landfrieden, die Freiheit und die Würde aller bedrohen. Sie sind – wie alle Seuchen – nicht plötzlich einfach da, sie entstehen heimlich, brechen hier und da erst in begrenztem Umfang aus, um dann mit Wucht alles, was den Menschen ausmacht, zu befallen und zu zerstören. Der 31.01.1933 hatte eine lange Vorgeschichte, der 09.11.1938 hatte eine lange Vorgeschichte. Wir erinnern uns um unserer Gegenwart und Zukunft willen.

Und um unserer Gegenwart und Zukunft willen müssen wir aber gerade auch über den kulturellen, den zivilisatorischen Reichtum zu sprechen, den wir jüdischen Menschen in Deutschland verdanken: Albert Einstein und Paul Ehrlich, Gustav Mahler und Felix Mendelssohn-Bartholdy, Franz Kafka und Heinrich Heine, Lise Meitner, Else Lasker-Schüler, Nelly Sachs, Rahel Varnhagen, vielleicht, auf der konservativen politischen Seite auch Walther Rathenau und auf der nicht so konservativen Rosa Luxemburg. Und weil wir im Saarland sind: uns bewusst machen, dass es einen jüdischen Generalmusikdirektor Felix Lederer, einen jüdischen Generalintendanten Dr. Georg Pauly gab, dass es neben bedeutenden Ärzten, Kaufleuten und Bankiers Menschen gab, die die rechtsstaatlichen Grundlagen unserer saarländischen Verfassung gelegt haben, die Juristen Alfred Levy und Gustav Levy. Und dass es ganz viele Menschen jüdischen Glaubens gab und gibt, die uns nichtjüdischen Deutschen ihr Vertrauen gegeben haben und geben und mit ihren Kindern, Enkeln und Großenkeln als unsere Nachbarn aus der Vertreibung zurückgekehrt oder neu zu uns gekommen sind und uns in diesem Jahr zu ihrer Musik, ihrer Poesie, ihren Festen einladen wollen, zu Sukkot im September etwa, in eine Laubhütte, die kein Dach hat, damit die Menschen den Himmel sehen können und das, was sie mit ihm in ihrem Innern verbinden.

Der evangelischen Pfarrerin Stefanie Schardien verdanke ich einen wunderbaren Hinweis. Was heißt erinnern, was bedeutet es, wenn wir in unserer Gegenwart immer wieder Erinnerungen für die Zukunft schaffen: Im Deutschen weist das Wort erinnern daraufhin, dass Erlebtes verinnerlicht, zu dem wird, was unser Innerstes ausmacht. Es bedeutet also, dass Vergangenheit (und der Umgang mit ihr) Teil von uns wird. Im Englischen heißt erinnern to remember, Erinnerung remembrance: Wenn wir uns erinnern, nehmen wir danach etwas, was war, wieder zu uns auf, wir machen es wieder zum Mitglied unserer Gemeinschaft, zum Teil unseres Lebens und Handelns und wollen es behalten.

Deshalb ist 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland kein Gedächtnistheater von nichtjüdischen Deutschen für nichtjüdische Deutsche mit der Funktion, das wohlige Gefühl zu wecken, zu den Guten zu gehören. Es ist sowohl eine Schrift an der Wand, die mahnt, dass wir wachsam sein müssen, als auch ein Zeichen der Zuversicht: Jüdisches Leben in Deutschland ist kein romantisch-museales historisches Ausstellungsstück zwischen Klezmermusik, Meschugge-Partys und gefillte Fisch. Jüdisches Leben ist ein sehr anspruchsvoller und differenzierter, integraler und eminent wichtiger Teil unserer deutschen Gegenwart und Zukunft. Und das ist notwendig und das ist gut so.

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