Vortrag vor der Ärtzekammer des Saarlandes
Montag, 21. November 2022
Am 30. Juli 2022 hat es Frau Dr. Lisa-Maria Kellermayr, 37, Hausärztin am Attersee nicht weit entfernt von Salzburg – und von Braunau – , die unermüdlich für Impfungen geworben hatte, nicht mehr ertragen. Im Netz ununterbrochen mit Hinrichtung und Abschlachtung auch ihrer Angestellten bedroht, „in den Tod gehasst“, hat sie den Freitod gewählt. Die oberösterreichische Ärztekammer hatte auf ihre Hilferufe geschwiegen, Polizei und Staatsanwaltschaft in Wels hatten ihr geraten, das mit den Ratschlägen zur Impfung doch zu lassen.
Natürlich hat diese Geschichte nichts mit unserem heutigen Zusammentreffen zu tun, damit, dass vor acht Jahrzehnten Ärztinnen und Ärzte an Oder und Spree, Rhein, Mosel und Saar angegriffen, verhetzt, entrechtet, vertrieben, verschleppt und, oft genug, in die Gaskammern geprügelt wurden, nur weil sie jüdisch waren. Und, so tragisch der Freitod der Ärztin auch ist, nichts liegt mir ferner als einen Vergleich mit dem Weg zu ziehen, der zu dem singulären Menschheitsverbrechen der Shoa geführt hat. Natürlich ist das also eine andere Geschichte. Ist sie aber nicht doch Anlass zum Nachdenken über strukturelle Ähnlichkeiten?
Fast die Hälfte aller Deutschen findet, das Gedenken an die Gewalt- und Willkürherrschaft des Dritten Reichs müsse endlich enden. Heute Abend sind wir also, wenn man will, eine woke Minderheit. Vielleicht ist aber der ein oder andere hier doch auch erschöpft vom Erinnern, und will nur guten Willen zeigen?
Mit manchen „Hälften“ hadert man. Sie antworten nämlich auf Fragen, die falsch oder besser ungenau gestellt sind. Ich möchte versuchen, genauere zu stellen und so um neue Mehrheiten zu werben. Meine These ist: Heute und all die Mahnmal-Tage dieser Monate und Jahre beschwören wir in Wirklichkeit keine Vergangenheit, sondern setzen uns unserer Gegenwart und Zukunft aus. Und das nicht nur, weil wir alle paar Tage wieder von neuen Menschheitsverbrechen hören, sondern weil es für unsere Kinder und Enkel wichtig ist.
Warum erinnern wir uns also an jüdische Ärztinnen und Ärzte, deren Tätigkeit im Saarland verboten oder unmöglich gemacht wurde, denen mit der 4. Verordnung zum Reichsbürgergesetz – § 1: Bestallungen jüdischer Ärzte erlöschen zum 30.09.1938 und § 3: Juden ist es verboten, die Heilkunde auszuüben – die Approbation entzogen, deren Promotion widerrufen, deren Praxen geschlossen wurden, die enteignet, vertrieben, gefoltert und manche gar ermordet wurden?
Die erste sehr angemessene Antwort ist: Um uns mit Anstand und Respekt vor den Opfern dunkler Zeiten zu verneigen.
Die zweite gleichermaßen angemessene hat Ihre Kollegin Gisela Tascher in ihren tief beeindruckenden Studien gegeben: Um diesen Ärztinnen und Ärzten ihre Würde wieder zu gewähren. Dabei hat sie im Übrigen bescheiden unterlassen zu erwähnen, dass es dem, der eine Würde restituiert, auch darum gehen muss, sich selbst als würdig zu erweisen, einen freiheitlichen Rechtsstaat zu repräsentieren, einen Beruf auszuüben, der zu den schönsten und wichtigsten gehört, die dem Leben und der Integrität von Menschen gewidmet sind, darum, der „Berufung“ von Ärztinnen und Ärzten gerecht zu werden.
Aber es gibt noch einen dritten Grund.
Als am 10.11.1938 in Völklingen-Luisenthal die Praxis und das Privathaus des hochangesehenen jüdischen Arztes Dr. Rudolf Fromm von einer Meute des „gerechten Volkszorns“ – so nannte Josef Goebbels das – angegriffen und er geschlagen wurde, in „Schutzhaft“, wie das damals hieß, genommen und wenig später nach Dachau verschleppt wurde, als seine Habseligkeiten geraubt, sein Anwesen geplündert wurden, da waren die Rädelsführer vor Ort ja nicht Hitler, Himmler oder Heydrich, nicht einmal Bürckel, der Gauleiter, der dem Führer versprochen hatte, die Saar binnen Kurzem „judenfrei“ zu machen, es waren ein Völklinger Uhrmacher, ein Schneider, ein Bergmann aus Luisenthal. 1947 wurden diese Täter vom Landgericht Saarbrücken wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu geringstmöglichen Strafen verurteilt, weil es ja Schlimmeres hätte geben können. Sie wurden dann sogar nur Monate später begnadigt von einem hohem saarländischen Juristen, der sich mit der Sache auskannte, der nämlich als grausamer Vorsitzender des Sondergerichts Posen bis Kriegsende unzählige Todesurteile gegen polnische Fremdarbeiter wegen Nichtigkeiten verhängt hatte, der problemlos im Saarland weiterrichten und später sogar von der Bundesregierung mit einer Mitgliedschaft in einem internationalen Schiedsgericht geehrt wurde.
Im Übrigen: Die Praxis und das Anwesen von Dr. Rudolf Fromm hatte wenig später ein anderer Arzt preiswert „erworben“, die Praxis fortgeführt. Er blieb unbehelligt.
Es sind solche Ausbrüche von Gewalt und solche Kontinuitäten, die uns nach dem Sinn von Erinnerung fragen lassen.
Mittlerweile ist es fast schon selbstverständlich geworden zu sagen, es geht nicht um Schuld. Schuldige sind tot. Nachgeborene können nicht schuldig sein. Ich wiederhole das ausdrücklich.
Mittlerweile ist es fast schon selbstverständlich geworden zu sagen, es geht um Verantwortung: Wir müssen Sorge tragen, dass unser freiheitlicher demokratischer Rechtsstaat verteidigt wird, und dass die immer stärker gefährdete Friedlichkeit unserer Gesellschaft vor den neuen Verhetzungen und Verletzungen wie in Völklingen-Luisenthal oder am Attersee geschützt wird. Es geht darum, dass nicht wieder Menschen zu Tode gehasst werden.
Leider ist nur das Sagen selbstverständlich, wer die täglichen abartigen Abscheulichkeiten in Bezug auf Menschen, die anderer ethnischer Herkunft, anderer sexueller Identität, oder auch nur anderer politischer Meinung sind, im Netz lesen muss, wer die judenfeindlichen Plakate in Saarlouis um den 09.11.2022 herum gesehen, wer vor ein paar Tagen die sorgfältig gezeichneten Hakenkreuze an der Universität des Saarlandes beobachtet hat, weiß um die Wirklichkeit.
Verantwortung zu tragen, dazu genügt es leider nicht, dass wir – im Wohlgefühl zu den Guten zu gehören – solche Gedenkreden halten oder ihnen zustimmen. Keiner hier gehört zu den Teilnehmenden dieser Internetpogromaufrufe. Und die, die sie veranstalten, sind nicht hier und hören ohnehin nicht zu.
Daher sind Widerspruch und Widerstand im Alltag notwendig. Immer dann, wenn wir die Zeichen der mentalen Verrohung oder auch nur einer vermeintlich sachlich daherkommenden Diskriminierung sehen – in einer Anwaltskanzlei, in einer Arztpraxis, in einer Gaststätte oder einer privaten Unterhaltung – sind Zeichen eines jeden von uns notwendig, dass es Grenzen des Sagbaren gibt, keine stummen Zeichen, beredte.
Mein Gott ja, werden viele sagen, sehen wir doch, machen wir doch. Ist voll in Ordnung, was der Beauftragte da sagt. Muss das denn ständig wiederholt werden? Das birgt eine Gefahr.
Dabei geht nämlich etwas verloren. Und das ist meine dritte Überlegung nach meinem Nein zur Schuld und meinem Ja zur Verantwortungsübernahme. Verloren geht: Die Suche nach Erkenntnis.
Wir trauern um jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger, die uns eine Leere hinterlassen. Das gebietet uns der Respekt. Wir verurteilen die Täter. Das ist ein wenig wohlfeil nach 90 Jahren aber in Ordnung.
Aber wir fragen viel zu wenig, wie es geschehen konnte, dass ganz normale Bürger, ganz normale Ärzte, ganz normale Juristen, ein Uhrmacher, ein Schneider, ein Bergmann, wie aus Dr. Jekylls Mr. Hydes werden konnten.
Wieso haben Ärzte ganz gerne die Praxen ihrer verfemten jüdischen Kollegen übernommen, wieso haben Richter in Saarbrücken polnische Zwangsarbeiter für den Diebstahl eines Fahrrads zum Tode verurteilt, nachdem sie die Planstellen ihrer aus dem Dienst entfernten jüdischen Kollegen übernommen hatten, wieso haben Universitätsprofessoren die Lehrstühle ihrer jüdischen vormaligen Mentoren gerne übernommen und sich nach dem Krieg gerechtfertigt, sie hätten ja nur Schlimmeres verhüten wollen und doch nur verständliche Angst um ihr Fortkommen gehabt? Wieso haben in der Reichspogromnacht 1938 nicht nur Hunderttausende geschwiegen und betreten die Rollläden herabgelassen, wieso haben Zehntausende – im Saarland Aberhunderte „normale“ Bürgerinnen und Bürger – mitgebrandschatzt?
Mir ist dabei wichtig: Das ist keine Frage von oben herab. Ich überlege mir immer wieder und freue mich über jeden, der es auch tut: Was hätte ich selbst in diesen Zeiten, in denen es keine Komfortzonen gab, getan? Bin ich mir meiner, dürfen wir uns unser so sicher sein?
Noch schärfer hingeschaut: Wieso haben Ärzte – und glauben sie mir, stünde ich vor Juristen oder Pädagogen würde ich nichts Anderes sagen können – den Rassenwahn und die Abartigkeiten der industrialisierten Vernichtung von Juden (und anderen) mitgemacht? Das sind doch nicht Tausende von dissozialen Persönlichkeiten gewesen, Verbrecher aus nie vorhandener Ehre, Menschen, die in den Worten des Strafrechts an einer schweren seelischen Abartigkeit litten, Menschen, die abgrundtief seelisch verroht und psychisch schwer krank waren?
Wir begegnen ihnen aber in den Abgründen und der Finsternis auch der Medizin, gebildeten Menschen aus bürgerlichen, sogar religiösen Familien, die an der Rampe in Auschwitz Melodien der deutschen Klassik gesummt haben, bevor sie Menschen selektiert habe, nach rechts zum Zyklon B, nach links in die Unterdruckkammern, die sie dort qualvoll getötet haben, ihre Schreie gehört, den Schaum vor den Mündern der Sterbenden, das Aussetzen der Atmung gesehen haben, nach sechzig Minuten konnte die Sektion beginnen, die feststellen sollte, wie die Organe der Gefolterten sich verändert hatten. Wir begegnen ihnen in Berichten über Zwillinge, der eine mit einem Bakteriencocktail zu Tode verseucht, der andere dann vom Arzt oder seinen Helfern erschossen und aufgeschnitten um zu vergleichen. Wir begegnen ihnen, wenn wir hören, dass Neugeborenen Farbstoff in die Augen injiziert wurde, bevor die Augen herausoperiert und zur schmetterlingsgleichen Sammlung im Arztzimmer angenadelt wurden.
Jüdische Häftlingsärzte, die bei diesen „Spezialoperationen“ assistieren mussten, haben in Ärzteprozessen ausgesagt: Das waren bei weitem nicht alle sadistische Verbrecher. Aber sie waren von besessener Seelenlosigkeit, empfindungslose Folterer und Mörder, die Wert darauf gelegt hatten, wissenschaftlich als Arzt zu arbeiten.
Einer der führenden NS-Mediziner hat im Nürnberger Ärzteprozess unberührt erklärt: Man möge bedenken, er sei ja verantwortlich im Falle des Weiterlebens der von ihm Getöteten gewesen, er habe daher Schuldgefühle gehabt, dass die Selektion nicht rigoros genug gewesen sein könnte. Ein anderer hoher Ärztefunktionär hat es schon Mitte der dreißiger Jahre öffentlich gesagt: Ratten, Wanzen und Flöhe sind „auch Naturerscheinungen und gottgegeben, wie Zigeuner und Juden, man kann sie nicht ändern, wir müssen diese Schädlinge eben allmählich ausrotten“.
Wenn ich mit jungen Menschen spreche über die Bedeutung der Auseinandersetzung mit dem verbrecherischen Regime des Nationalsozialismus, in das Millionen normale Deutsche verstrickt waren, wenn ich so ratlos gegenüber ihrer Kälte oder Unberührtheit bin, frage ich mich: Wie lehrt man eigentlich Empathie, Herzensbildung, die vor all dem wappnen kann, was damals geschehen ist, was heute geschieht, so weit entfernt ist Butscha nicht. Wirklich beantworten kann ich das nicht.
Oder ist heute Abend doch so ein ganz kleines Stück Antwort?
Vielleicht sind es ja die immer wieder schwer erträglichen erinnerten Geschichten, die empfindsam machen können. Deshalb muss gedacht und erinnert werden, um resilient zu machen gegenüber schon den Anfängen einer Wiederkehr, also auch gegenüber der Gegenwart des zu Tode Hassens.
Wer die Abscheulichkeiten bei Twitter liest, die die Ärztin Dr. Lisa-Maria Kellermayr in den Freitod getrieben haben, der kann Vergangenheit und Gegenwart gedanklich miteinander schon verbinden. Der steht vor einer Gedenktafel wie der der saarländischen Ärzteschaft, der man dafür nur aufrichtig danken kann, der steht hier in dem Bewusstsein, dass es keine ganz interessante Archivarbeit, keine Archäologie des letzten Jahrhunderts ist, sondern dieses Gedenken das Gefühl der Betroffenheit, der Erschütterung, dass es die Gegenwart betrifft.
Menschen waren nicht nur, sie sind verführbar. Und je mehr Macht sie haben – in ihren Berufen oder in der abgedunkelten Heimlichkeit ihrer Accounts auf sozialen Netzwerken – desto größer ist die Gefahr des Missbrauchs. Der Schlaf der Vernunft, malt Goya, gebiert Ungeheuer.
Daher bin ich Ihnen, der saarländischen Ärzteschaft, dankbar für die Chance, die diese Tafel des Gedenkens an jüdische Ärztinnen und Ärzte im Saarland bietet. Weil wir uns damit an die Seite der Opfer stellen. Weil wir Ihnen Respekt erweisen. Weil wir uns vornehmen können mutig zu sein und redlich zu versprechen offen zu widerstehen, wenn andere ausgegrenzt werden, wenn ihre „Bestallung“ als gleichberechtigte Mitbürger und Mitbürgerinnen angetastet wird. Weil das Gedenken uns Gelegenheit gibt, uns unserer Verführbarkeit durch Einfluss und Reputation, Geld und Forscherungeist, bewusst zu werden, und weil wir uns vielleicht vornehmen ein Vorbild zu sein, zu lernen und zu lehren, das Leiden Anderer mitzuempfinden.
Mit dieser Erinnerung zeigt die saarländische Ärzteschaft daher in friedloser werdenden Zeiten Gesicht. Für dieses Gesicht, dieses Vorbild, diese Geste des Respekts danke ich Ihnen ebenso wie für Ihre Geduld beim Zuhören.