Rede zum Gedenken an die Reichspogromnacht
Dienstag, 09. November 2021 in der Saarbrücker Synagoge

„Meinst Du nicht“, bin ich vor ein paar Monaten gefragt worden, „meinst Du nicht, Du machst ein wenig viel Gewese um diesen Antisemitismus? Ein paar Hundert Hakenkreuze auf Hauswänden, eine paar Hundert Hitlerarme, ein paar Hundert Schmierereien ‚Juda verrecke‘ – Du meine Güte, wie viele Kinder werden jedes Jahr missbraucht, wie viele Frauen geschlagen und geschändet, wie viele Menschen in aller Welt sterben an Hunger und Durst. Und: Meinst Du nicht, den Leuten geht diese Erinnerungskultur so langsam auf den Geist?“
Hass und Hetze, das sind abstrakte Begriffe. Manchen, die sie ganz selbstverständlich ablehnen, fällt es doch schwer, mit ihnen etwas zu verbinden, was sie selbst berührt.
Also erzähle ich eine kleine wahre Geschichte, die Geschichte eines meiner ersten Erlebnisse nach meiner Beauftragung. An Ostern 2019 fand sich auf dem Anrufbeantworter der Synagogengemeinde Saarbrücken eine Nachricht, die Stimme von Hitler imitierend:
„In Buchenwald, in Buchenwald, da machen wir die Juden kalt. In Belsen, in Belsen, hängen wir sie an Felsen. Sie müssen wieder brennen, die Synagogen, der Judenabschaum, sie müssen wieder brennen.“
Ich weiß, dass es nicht einfach ist, solche Sätze zu hören, es ist auch nicht einfach, sie zu wiederholen. Aber nur dann, wenn wir sie wiederholen und wenn wir sie hören, vermögen wir ein Gefühl für ihre Bedeutung zu entwickeln. Und ihre Bedeutung liegt darin, dass es sich um Worte handelt, die 80 Jahre nach dem November 1938 gesprochen wurden, fünf Monate vor dem Anschlag von Halle. Ihre Bedeutung liegt darin, dass sie heute gesprochen worden sind, von einem 17jährigen Deutschen.
Der 09.11.1938 war in der deutschen Geschichte ein besonderer Tag. Josef Goebbels hatte ihn lange vorbereitet und die Entfesselung des Volkszorns genannt. Er hat diese Nacht, wie aus seinen Tagebüchern hervorgeht, genossen. Diejenigen, die versucht haben, der Verwüstung Einhalt zu gebieten, um deutsch-arisches Eigentum zu sichern, das von den Flammen der zu zerstörenden jüdischen Gebäude erfasst zu werden drohte, um der Vermögenswerte habhaft zu werden, die die jüdische Gemeinschaft noch bewahrte, um plündern und sich bereichern zu können, hat er zurückgewiesen. Josef Goebbels hat den totalen Vernichtungskrieg, den er später für alle Deutschen ausgerufen hat, für eine Gruppe deutscher Männer, Frauen und Kinder vorweggenommen.
Aber zur Wahrheit gehört: Josef Goebbels selbst hat keine Synagoge angezündet hat, er selbst hat keine Thorarolle zerfleddert, keine Wohnung einer jüdischen Nachbarin blindwütig zerstört, er war nur ein kalter, mordlustiger Beobachter dessen, was die Schergen der SA, die Horden der knüppelnden SA, die Rotten des NS-Kraftfahrkorps an Lunten gelegt haben.
Zugleich war er auch stolz darauf, dass es auch andere waren, vermeintliche Freunde, Nachbarn, Bürger, die ihren Kindern die Steine reichten, um die Glasscheiben, das „Kristall“ dieser Nacht, einzuwerfen, Überzeugte und Mitläufer, Habgierige und Verrohte, Täter und Zuschauer. Viele Menschen in Deutschland haben diese Brandschatzungen verurteilt, leider meist still und heimlich, wir dürfen uns nicht erheben, was hätten wir denn getan. Viele Menschen haben Mitleid gefühlt und klammheimlich – manche, wenige auch offen – gezeigt. Wir dürfen uns nicht erheben, wir sind nicht dabei gewesen und wir sind nicht vor eine Wahl gestellt gewesen. Gerade deshalb aber sollte uns die Erinnerung an diesen Tag, an die, die, vielleicht betreten, zugeschaut, die, vielleicht entsetzt, weggeschaut, die, die sich in ihre Wohnungen verkrochen und vielleicht sogar leise geweint haben, vielleicht sollten sie uns Anlass sein, ein paar Worte von Elie Wiesel, des Friedensnobelpreisträgers, zu wiederholen:
„Ich habe immer daran geglaubt, dass das Gegenteil von Liebe nicht Hass ist, sondern Gleichgültigkeit. Das Gegenteil von Glaube ist nicht Überheblichkeit, sondern Gleichgültigkeit. Das Gegenteil von Hoffnung ist nicht Verzweiflung, sondern es ist Gleichgültigkeit. Gleichgültigkeit ist nicht der Anfang eines Prozesses, sondern sein Ende. Wenn Sie die Wahl haben zwischen Verzweiflung und Gleichgültigkeit zu wählen, wählen Sie die Verzweiflung, nicht die Gleichgültigkeit. Denn aus Verzweiflung kann eine Botschaft hervorgehen, aber aus Gleichgültigkeit kann nichts hervorgehen.“
Deshalb müssen wir uns die Verzweiflung, die in dieser Nacht geboren wurde, vorstellen: Jeanine Meerapfel, eine bedeutende deutsch- argentinische Regisseurin und Präsidentin der Akademie der Künste Berlin, schreibt:
„Es ist schwer, sich die Angst und die Verzweiflung vorzustellen, die diese Nacht ausgelöst hat. Wenn ich versuche, mir das Geschehen vor Augen zu führen, das plötzlich alles in Frage stellte, jede Lebensordnung, jede Gewissheit, jede Selbstverständlichkeit des Alltags, packt mich die blanke Angst.“
Vor ein paar Tagen war ich in Gurs, dort, wo, kaum zwei Jahre nach dem 9. / 10.11. 1938, auf damals schlammig-kaltem grauen Land nach tagelanger Eisenbahnfahrt das Siechtum und Sterben saarländischer, pfälzischer und badischer deportierter Jüdinnen und Juden begann. Dort stehen heute auf einem weiten sorgsam gepflegten Feld im Angesicht der Pyrenäen Grabsteine, manche mit einigen Kieselsteinen der Erinnerung in Trauer geschmückt, wie es jüdischer Brauch ist: Emma Barth aus Illingen, Tilla Levy aus Merzig, Rosa Beer aus St. Ingbert, Anna Heymann aus Saarbrücken, Bertha Graber aus Homburg, Erna Berl aus St. Wendel, um nur, zufällig entdeckt, wenige zu nennen. Die Grabsteine markieren keine Gräber. Die Inschriften lauten jeweils weiter: Verschollen in Auschwitz. Dass sie die Namen derer tragen, deren wahre Grabstätte der Rauch über den Krematorien ist, soll sie lebendig in unserem Gedächtnis halten.
In der Tat, es ist schwer, sich diese Nacht der Finsternis und den ihr folgenden Tag der Schwärze vorzustellen, an denen die Rauchsäulen über den Trümmern der Synagogen andere Rauchsäulen vorangekündigt haben.
Es ist schwer sich vorzustellen, was alles in dieser Nacht auch verraten wurde: Nachbarschaften, Freundschaften, Würde.
Die Reichspogromnacht war die Nacht einer unendlichen Demütigung. Aber in Wirklichkeit haben sich die Täter mit ihren vom Rassenwahn verwahrlosten Seelen selbst gedemütigt: Der große österreichisch-deutsche-jüdische Psychiater Viktor Frankl hat schon recht, wenn er schreibt: In Wirklichkeit gibt es nur zwei Rassen, die Rasse der anständigen Menschen und die Rasse der Unanständigen.
Und nichts Anderes gilt es in dem Gedenken an diese Nacht zu erkennen, eine Nacht, die auch eine Begegnung ist, eine Begegnung des Menschen mit sich selbst, mit seinen Fähigkeiten und Unfähigkeiten, Mut zu haben oder nicht zu haben, mitzuempfinden oder stumm und taub und blind und fühllos zu bleiben, mit seinen Fähigkeiten standhaft zu sein oder mitzulaufen, ein Herz zu haben oder einen Stein an dessen Stelle.
Das Verlangen nach Erinnerung ist für mich alles andere als eine Empfehlung zu einer archivarischen Existenz. Es ist kein Ruf nach der Bewältigung einer Vergangenheit, die nicht bewältigt werden kann, weil sie nun einmal geschehen ist. Niemand kann heute Schuld sühnen, aber alle können wir Verantwortung übernehmen. Es geht darum, etwas zu finden, was uns vor den Gefahren einer Verwüstung unser Seelen schützt: Den Blick auf Unmenschlichkeit, den Blick auf Entwürdigung, den Blick auf Leiden. Es geht darum, ganz einfach, Herzensbildung zu gewinnen.
Nichts Anderes ist Sinn und Zweck der Erinnerung an den 09. und den 10. November 1938: Der Blick auf die Feuer in den Synagogen, auf die eingeworfenen Glasscheiben der Fenster der Geschäfte und Wohnungen jüdischer Deutscher. Der Blick auf die Bilder der ratlosen und entsetzten Augen der Kinder, die in diesem November 1938 in gar keiner Weise verstanden haben und verstehen konnten, was um sie geschah. Es geht um den Schutz vor zerstörerischen Bränden, vor einem Feuer, dessen geringster Schaden die Gebäude sind, dessen größter aber die Seelen der Menschen. Es geht um uns, heute.
Meinst Du nicht, hat jemand gefragt, meinst Du nicht, Du machst ein bisschen viel Gewese um Gedenken, Erinnern, Antisemitismus?
Nein. Das meine ich nicht.